Von institutionalisierten Gewerkschaften bis zu autonome Syndikate – Widerspruch im Widerstand?

Die „Imperiale Lebensweise“ (Brand/ Wissen 2017) ist, tief verankert in der Art wie wir Wirtschaften, Konsumieren und sogar in der Art und Weise wie wir den Alltag wahrnehmen. Damit ist sie, samt ihren Privilegien und selbstzerstörerischen Elementen, ein Teil unserer Gesellschaft und sogar unserer Identität geworden. Sie wird von den Menschen täglich, meist unbewusst, gelebt. Und sie wird von staatlichen Stellen, Institutionen und sogar von institutionalisierten Gewerkschaften aufrechterhalten (vor allem Zeitalter des Fordismus, Brand/ Wissen 2017: 88). In Österreich sind die staatlichen Stellen, ja: der Staat selbst, traditionell eng mit den Gewerkschaften verbunden (Misslbeck 1983, Saage 1986). Blickt man in die Geschichte, so zeigt sich, dass die Gewerkschaften vor allem in Krisenzeiten (zum Beispiel nach dem 2. Weltkrieg) eine wichtige, staatstragende Rolle eingenommen haben. Staat und Gewerkschaft – sie bedingen sich und stabilisieren sich im österreichischen Kontext sogar gegenseitig (ebd.). Generell sind Gewerkschaften, blickt man in der Geschichte noch weiter zurück, als Reaktion auf die kapitalistische Ausbeutung der Arbeiter*innen entstanden. Wo bleibt heutzutage die gewerkschaftliche Antwort auf den kapitalistischen und widersprüchlichen Sachverhalt, dass in Österreich trotz zunehmenden Reichtums immer mehr Menschen, besonders viele Frauen, kein Existenz sicherndes Einkommen und keine ausreichende soziale Absicherung haben (Vgl. Sommer 2007: 10)? Die Geschichte der Lohnarbeit und der sozialen Kämpfe scheinen dem Mantra des immerwährenden Wachstums gewichen zu sein (Vgl. Altvater 2009: 28). Man denke nur Zwentendorf und Hainburg in den 70er oder aktuell an den Ausbau der „Dritten Piste“. Alles Beispiele die aufzeigen, dass der ÖGB und die Sozialpartnerschaft sich für Wirtschaftswachstum und gegen die Ökologie, gegen Klassenantagonismen entschieden haben und damit eine aktive Rolle in der Systemerhaltung spielen (Vgl. Niedermoser 2017: 34ff.). Für welche Arbeitsplätze werden künftig staatlich-institutionalisierte Gewerkschaften kämpfen, wenn es kein funktionierendes Ökosystem geben wird?

Die ursprüngliche Rolle der staatlich-institutionalisierten Gewerkschaft war und ist die Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder – der Lohnempfänger*innen. Doch die Gesellschaft besteht vor allem heute im Zeitalter der Digitalisierung nicht nur aus „Lohn-Arbeiter*innen“. Was ist mit den Scheinselbstständigen, den Lohnarbeitslosen, den Pensionist*innen und den vielen anderen die sich nicht repräsentiert fühlen? Hier müssen die großen institutionalisierten Gewerkschaften erkennen, dass sie sich selbst hinterfragen müssen. Denn derzeit sind sie fast unüberblickbar große, bürokratische Organisationen welche den gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaft sogar noch verfestigen. Und zwar mit einer bestimmten inneren Logik der zentralistischen Hierarchie. Das ist äußerst problematisch! Hier sind oft alte, eingesessene Strukturen aus ständestaatliche und austrofaschistische Zeiten am Werken. Dazwischen ein Aufflackern von Rätedemokratien (1918). Mittlerweile ist die „staatstragende Vorbildgewerkschaft“, eingebettet im neoliberalen Finanzsystem – und wirtschaftet sich damit selbst zugrunde. Man denke nur an den 350 Mio. € schweren Bawag-Skandal. Man muss sich diesen Fall mal auf der Zunge zergehen lassen: Die ÖGB rühmt sich damit, dass wenig gestreikt wird (ÖGB 2019). Daher konnte auch reichlich Kapital zurückgelegt werden, was im Nachhinein in die Taschen einzelner Spekulanten bzw. Fonds landete. Weniger Streiken, mehr spekulieren? Diese Art des Penthouse-Sozialismus ruinierte nicht nur den Ruf der ÖGB, sondern auch dessen politische Glaubwürdigkeit. Pensionierte Bawag-Generaldirektoren spielen Golf, logieren in Dachwohnungen mit breiten Terrassen (Immobilien der Bawag) und auch ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch (SPÖ) und seine Gewerkschaftsspitze tanzt vergnügt auf luxuriöse Ballveranstaltungen. Ein Einzelfall? Streibar. Mit Sicherheit muss das keynesianisch-korporatistische Handeln überdacht werden: „Die SPÖ plakatiert im EU-Wahlkampf zwar mit dem Bild ihres Spitzenkandidaten Andreas Schieder die Frage „Menschen oder Konzerne?“, was natürlich eine konzernkritische Position andeuten soll. Man wundert sich: Der SPÖ geht es doch, außerhalb von Vorwahlzeiten, immer um beides: Menschen und Konzerne. Letztere schaffen vermeintlich jenen Wohlstand, den die Sozialdemokratie angeblich immer noch am besten zu verteilen weiß.“ – so Brand im Standard.

Die autonomen Gewerkschaften haben in ihrer Geschichte hingegen immer für radikale Demokratie gekämpft (Rocker 1919). Demokratie ist keine Frage nur von Wahlen. Demokratie heißt, wie wir solidarisch zusammenleben – in Österreich, in Europa, auf der ganzen Welt. Und das betrifft auch die Frage, wie wir in Zukunft gerechter wirtschaften. Wir müssen eine Diskussion darüber führen, wie wir eine echte demokratische Wirtschaft schaffen können (Demirovic 2008: 59). Denn derzeit ist sie meist undemokratisch, hierarchisch, ausbeuterisch und (selbst-)zerstörerisch angelegt. Eine demokratische Art des Wirtschaftens kann das Mantra des Profits, der Konkurrenz und der ökologischen Selbstzerstörung hinter sich lassen.

Aus verschiedenen Gründen werden solche Themen von den staatlich-institutionalisierte Gewerkschaften nicht geführt. Zurzeit ist die Macht der staatlich-institutionalisierten Gewerkschaften stark im Sinken begriffen. Die Zwänge der neoliberalen Ökonomie – der imperialen Produktions- und Lebensweise – zwingen vor allem die institutionalisierten Gewerkschaften zu immer mehr faulen Kompromissen. Österreich ist nicht nur Wirtschaftsstandardort, sondern vor allem auch Lebensstandort der Bevölkerung (Vgl. Sommer 2007: 27). Leider ist das keine kulturelle Selbstverständlichkeit mehr! Hier verlieren staatlich-institutionalisierte Gewerkschaften an Glaubwürdigkeit, und auch an Mitgliedern. Die Mobilisierungskraft schwindet. Lösungen wären jedoch vorhanden: Wie wäre es etwa mit neuen Betrieben bzw. Kooperative (wie Mondragon), die von und mit Gewerkschaften gegründet werden, und die basisdemokratisch geführt werden? Die Arbeiter*innen sollten wieder mitentscheiden im eigenen Betrieb und nicht nur Befehle „von oben“ ausführen. Auch hierfür gibt es historische wie aktuelle Beispiele, man denke nur an das milliardenschwere Kooperativ „Montragon“ im Baskenland, oder der spanischen Gewerkschaft „CNT“ bevor der Diktator Franco an die Macht kam. Konkreter zur Wirtschaftsdemokratie: Die Mondragón Corporación Cooperativa (MCC) ist die größte Genossenschaft und das siebtgrößte Unternehmen Spaniens. Zur MCC gehören mehr als 100 Unternehmen verschiedener Sektoren wie Maschinenbau, Automobilindustrie, Einzelhandel, Banken und Versicherungen. Sie zeichnet sich durch Solidarität unter den Arbeitnehmer*innen aus, die gleichzeitig auch am Grundkapital des genossenschaftlichen Unternehmensverbundes beteiligt sind und in die Entscheidungen des Führungspersonals durch demokratische Abstimmungsprozesse eingebunden werden (Flecker et al. 1985). Die Arbeiter*innen werden am Gewinn beteiligt. Die Führungskräfte verdienen maximal das Achtfache der einfachen Angestellten. Oberstes beschlussfassendes Organ ist der genossenschaftliche Kongress mit 650 Mitgliedern, der sich aus Delegierten aus den einzelnen Genossenschaften zusammensetzt. Mondragon war ein Beispiel für Wirtschaftsdemokratie jenseits von kapitalistischen Denkmuster (Gibson-Graham 2006), heute lässt sich darüber streiten. Weitere Konzepte und Alternativen: Beispiele hierfür sind Debatten um Post-Exktraktivismus, Degrowth und u.a. Just-Transition (Costa/ Brand 2018). Abseits dieser theoretischen Konzepte existieren auch praktische Beispiele von Degrowth: Die Rede ist hierbei von Zapatismo, der ersten Rebellion des 21. Jh. (Carlos Fuentes, In: Brand/ Wissen 2017: 118). Die Zapatista richten sich gegen die vielfältigen Herrschafts- und Konfliktlinien (Klasse, Rasse, Geschlecht etc.) und gegen das westliche, kapitalistische und patriarchale Denken (ebd.:120). Ihre Errungenschaft: Eigenständiges hierarchieloses Bildungssystem, kollektiver Unterhalt der Infrastruktur, ein auf Ausgleich anstatt auf Strafe ausgerichtetes Justizsystem, solidarisches Gesundheitssystem, basisdemokratisch-organisiertes Rotationsprinzip mit imperativen Mandat und nicht zuletzt eine Wirtschaftsstruktur die individuelle Eigentumstitel zurückweist (ebd.: 120f.).

Heute sind es vor allem die Frage nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen, die diese staatlich-institutionalisierte Gewerkschaften antreibt. Das ist auch wichtig! Nur wird dabei ausgeklammert, wie die österreichische Wirtschaft, und damit: wie hier gearbeitet wird, mit anderen Regionen Europas und der Welt zusammenhängt (Imperialismus, Kolonialismus). Welche Umweltprobleme unsere Art zu leben, zu arbeiten hier und andernorts verursacht (Klimakatastrophe). Und welche Auswirkungen das zum Beispiel auf die Flucht und Migration von Menschen hat (Konkurrenzkampf). Ausgeblendet wird auch, die äußert problematische Entwicklung der Lohnabhängigkeit selbst! Wäre es nicht besser, sich auch diesen Problemen zu widmen? Denn eines ist sicher: die österreichischen Arbeit*innen sind selbst davon betroffen! Eine Idee wäre, die Mitglieder nicht nur als Arbeiter*innen oder Angestellte zu sehen – sondern alle Bereiche ihres Lebens mitzudenken. Ihre Freizeit, ihre Gesundheit, die Umwelt in der sie sich bewegen, ihren Konsum, ihre Mobilität, ihre soziale Situation genauso wie ihre Sorgen und Ängste – und Wünsche. Klar ist: so wie bisher kann ist nicht weitergehen – denn die Probleme werden immer größer. Die Umweltkrise spitzt sich zu, die Demokratie wird von Rechtspopulisten, Neoliberale und deren konservativen Partnern angegriffen. Hier wäre der Punkt, wo die staatlich-institutionalisierten Gewerkschaften umdenken müssen, und sagen: Halt! So wollen wir nicht mehr regiert werden! Nicht so, und nicht von denen da! Die entscheidende Frage für die Zukunft wird sein: Wie kann ein gutes Leben für alle, statt Luxus für wenige, geschaffen werden? Das muss den institutionalisierten Gewerkschaften klar werden, sonst werden sie weiterhin an Bedeutung verlieren. Die jetzige Ausbeutung von Mensch und Natur auf globaler Ebene ist kein national lösbares Problem und bedarf der gegenseitigen Hilfe und Kooperation von Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Akteure weltweit. Alternativen könnten autonome, basisdemokratische Gewerkschaften sein.

Weiterführende Links und Infos zu autonomen Gewerkschaften: Die Confederación Nacional del Trabajo (CNT) ist eine spanische Konföderation anarchosyndikalistischer Gewerkschaften. Sie finanziert sich ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen. Sie fördert die Gründung und Vernetzung von selbstverwalteten Kooperative und lehnt keynesianisch-korporatistische Gewerkschaftsmodelle ab. Deutsche und österreichische Schwesterorganisationen sind die Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) und das Wiener ArbeiterInnen-Syndikat. (https://wiensyndikat.wordpress.com/).

International Workers Association: https://iwa-ait.org/content/addresses

 

Quellen:

Weinzierl, Rupert/ Haerpfer, Christian (1995): 30 Trends für Österreich zur Jahrtausendwende, Wien: Passagenverlag.

Talos, Emmerich (1993): Sozialpartnerschaft. Kontinuität und Wandel eines Modells. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik.

Anwander, Stefan et.al. (2013): Wissenschaft über Gewerkschaft. Analysen und Perspektiven. Wien. ÖGB Verlag.

Edelmayer, Friedrich (2008): Anarchismus in Spanien. Wien: Verlag für Geschichte und Politik.

Misslbeck, Johannes (1983): Der Österreichische Gewerkschaftsbund. Analysen einer korporatistischen Gewerkschaft. Darmstadt: Wisslit Verlag.

Hieden-Sommer, Helga (2007): Sozialstaat, neoliberales Wirtschaften und die Existenzsicherung von Frauen. Wien: Milena Verlag.

Brand, Ulrich (2019 i.E.): „Analyse und Strategie für die Ökologieproblematik stehen noch aus“. Ambivalenzen sozial-ökologischer Gewerkschaftspolitik. Blätter für Deutsche und Internationale Politk

Brand, Ulrich/ Niedermoser, Karin (Hrsg.) (2017): Gewerkschaften und die Gestaltung einer sozial-ökologischen Gesellschaft. Wien: ÖGB Verlag.

Altvater, Elmar (2009): Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Demirovic, Alex (2008): Wirtschaftsdemokratie, Rätedemokratie und freie Kooperationen. Einige vorläufige Überlegungen. Widerspruch 55/08. S. 55-67.

Gräber, David (2019): Bullshit – Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Stuttgart: Klett-Cotta.

Rocker, Rudolf (1919): Prinzipienerklärung des Syndikalismus, Referat des Genossen Rudolf Rocker auf dem 12. Syndikalisten-Kongress, abgehalten vom 27. -30. Dez. 1919. Berlin.

Saage, Richard (1986): Solidargemeinschaft und Klassenkampf. Frankfurt am Main. Suhrkamp.

Ziegler, Jean (2012): Jean Ziegler: Jedes Kind, das verhungert, ist ermordet worden. Interview mit Der Standard, 26.12.2012 https://derstandard.at/1348284112886/Jean-Ziegler-Jedes-Kind-das-verhungert-ist-ermordet-worden

ÖGB (2019): Streiken erlaubt? URL: https://www.oegb.at/cms/S06/S06_0.a/1342593916536/home/streik-der-letzte-ausweg.

 

Verfasst von Josef Mühlbauer am 13.5.2019 im Rahmen der kreativen Arbeit im „Periskop“