Kritik am Staatsverständnis von Chantal Mouffe

Die radikale Demokratie zwischen postnationalem Republikanismus und kommunitaristischen Anarchismus: Ergänzung oder Widerspruch?

1 Einleitung:

Diese Seminararbeit versucht das Staatsverständnis der „Essex-School“, insbesondere das von Chantal Mouffe systematisch zu verorten. Dabei wird einleitend die Frage geklärt: Von welchem Staatsbegriff Mouffe ausgeht, wenn sie für eine pluralistische, konflikthafte und radikale Demokratie plädiert? Auf zwei theoretische Strömungen werde ich mich besonders fixieren um Mouffes Demokratie- und Staatsbegriff vergleichen zu können, nämlich zum einen auf den postnationalen Republikanismus und zum anderen auf den „kommunitaristischen Anarchismus“[1]. Diese beiden soeben genannten Denkschulen dienen als Kontrastfolie, um einerseits die „radikale Demokratie“ (Mouffe) besser verorten zu können, andererseits um die Ähnlichkeiten dieser politischen Theorien explizit vergleichen zu können. Der Hauptteil dieser Arbeit bildet jedoch eine staatstheoretische Auseinandersetzung und eine Dekonstruktion des modernen Staates. Begleitend zu dieser Herangehensweise wird folgende Forschungsfrage aufgeworfen: Inwieweit widerspricht sich Mouffe’s radikale Demokratietheorie im Bezug zum Staat? Bevor ich auf das alles eingehe, müssen wir die einzelnen Begriffe definieren.

2 Begriffsbestimmungen und Vergleichsanalyse:

Auf folgendes Problem bei der Definitionsbestimmung muss jedoch vorher hingewiesen werden: Aus einer diskurstheoretischen, poststrukturalistischen und aus der Koselleck‘schen Perspektive sind Begriffe nie zur Gänze fassbar und eindeutig, sondern im Gegenteil befinden sich im ständigen Wandel. Der deutsche Historiker Reinhard Koselleck (2006) sah das Problem in der „Verzeitlichung der Begriffe“ (S. 77-99).[2] Bei Mouffe und Laclau sieht es ähnlich problematisch aus, wenn sie behaupten, dass sprachliche Begriffe sich nur über Gegenbegriffe differenzieren und artikulieren können. Ich werde nicht weiter auf dieses sprachphilosophische Problem eingehen und werde im Verlauf „den konventionellen Gebrauch“ von Begriffen verwenden, auch wenn ich mich der Problematik bewusst, dass auch diese „leere Signifikanten“[3] enthalten.

2.1 Republikanismus:

Während der nationale Republikanismus mit dem französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseaus in Verbindung zu bringen ist, welcher den zentralen Begriff: „Gemeinwillen eines Volkes“ („Volonté générale“) in seiner Demokratietheorie prägte, steht der postnationale Republikanismus dem Denken Immanuel Kants und seinem „kosmopolitischen Weltbürger“ näher (vgl. Saudoun 2002; Münch, 2008: 248).

Für heutige Vertreter dieser Denkschule bilden Rousseaus Überlegungen – die dem Republikanismus eine kontraktualistische Form geben – den wichtigsten Anknüpfungspunkt“ (Nida-Rümelin 2009: 125).

Der Kontraktualismus, oder auch Vertragstheorie genannt, versucht die Frage nach der Legitimation der staatlichen Herrschaft zu beantworten. Anders formuliert: Vertragstheoretiker von Hobbes, über Rousseau bis hin zu Rawls versuchten stets die Idee des wechselseitigen Nutzen durch einen „freiwilligen“ Verzicht der individuellen Freiheit und Selbstbeschränkung theoretisch, bzw. moralisch zu rechtfertigen. Der Staat wird demnach als eine Schöpfung der autonomen menschlichen Vernunft betrachtet (Euchner 1973: 25), in deutlicher Abgrenzung zu metaphysischen Betrachtungsweisen, wobei der Rechtsgrund dieser (staatlichen) Autorität im souveränen Nützlichkeitsanteil des Einzelnen liegt (Schottky 1995: 50).[4] Beim nationalen Republikanismus steht das Zusammengehörigkeitsgefühlt einer nationalen Gemeinschaft und deren Homogenisierung nach innen bei gleichzeitiger Abgrenzung nach außen im Zentrum. Hingegen beim postnationalen Republikanismus, stehen die aktiven und mündigen Bürger, welche teilnehmen an Angelegenheiten des politischen Gemeinwesens im Vordergrund. Wichtig zu erwähnen ist hierbei, dass es sich bei Kants Modell um eine kosmopolitische Föderation von Staaten handelt. Kant betont zwar den fiktiven Charakter des Gesellschaftsvertrags deutlich (will ihn also als bloßes Testinstrument darstellen), bleibt aber dennoch ein Vertreter des Kontraktualismus (vgl. Nida-Rümelin 2009: 145). Daneben steht der freiheitliche Republikanismus, mit deren berühmteste Vertreterin Hannah Arendt für einen öffentlichen Raum, welcher sowohl agonistische als auch assoziative Strukturen aufweist und in welcher Individuen gemeinsam handeln („Vita activa“) und sich entfalten können (vgl. Schaal et al 2009: 193). Eine lebendige Öffentlichkeit, also die strukturelle Aufwertung der Zivilgesellschaft ist das Gravitationszentrum ihres Staats- und Politikverständnisses. Wie wir noch sehen werden, spielen diese soeben genannten Faktoren eine wichtige Rolle in der radikalen Demokratietheorie. Gehen wir nun über zum nächsten Begriff den es zu definieren gibt:

2.2 Kommunitaristischer Anarchismus:

Zunächst einmal möchte ich zwischen einzelne theoretisch-ideologische Denkschulen unterscheiden, die sich zwar allesamt auf ein „Freiheitsdenken“ berufen, jedoch im Bezug zum Staat strikt widersprechen: Obwohl einige Gemeinsamkeiten sie verbindet grenzt sich der Libertarianismus sowohl vom klassischen Liberalismus, als auch vom Republikanismus ab. Während der Republikanismus mehr staatsbürgerliche Partizipation fordert („vida contemplativa“), geht der Libertarianismus (also radikaler Liberalismus) einen entscheidenden Schritt weiter, fordert das „normale“ Verständnis von Demokratie heraus und stellt sogar den Staat an sich in Frage. (vgl. Schaal et al 2009: 138). Er kritisiert, dass die theoretischen Überlegungen über die Legitimation eines Staates einen Gedankenschritt zu spät ansetzen. Darüber hinaus geht der Anarchismus einen radikalen Schritt weiter: Für den Anarchismus nämlich existiert keine Herrschaftsform die moralisch legitim ist, eine Position die vom Libertarianismus nur partiell geteilt wird (Schaal et al 2009: 138f). Berühmte Vertreter des Libertarianismus sind u.a. Robert Nozick, Friedrich A. von Hayek und Hans-Herrman Hoppe (Anarcho-Kapitalismus). Ideologisch und theoretisch nicht weit von diesen Proponenten (zumindest den Staat betreffend), befinden sich VertreterInnen des kommunitaristischen Anarchismus, wie u.a. Rudolf Rocker (Anarcho-Syndikalismus), Petr Kropotkin (Anarcho-Kommunismus) und Pierre-Joseph Proudhon (Mutualismus). Auf die zuletzt genannten Autoren, die im Bereich des kommunitaristischen Anarchismus anzusiedeln sind (in Abgrenzung zum Individual-Anarchismus und Anarcho-Kapitalismus)[5] wird sich meine eingangs erwähnte Hypothese und meine Kritik an Mouffes Staatsverständnis z.T. stützten. Da ich diese Position vertreten werde, möchte ich nun weiter die zentrale Idee des Anarchismus erläutern: Das Wort Anarchismus stammt etymologisch aus dem griechischen „anarchia“ und heißt so viel wie „Herrschaftslosigkeit“. Also mit anderen Worten ist der Anarchismus die politische Ideenlehre, welche jegliche Unterdrückung von Menschen über Menschen, als auch jegliche hierarchische Machtstruktur ablehnt (Göhler, 1993). Anarchisten streben demnach eine freie Gesellschaft der Gleichberechtigung an. Die Mitglieder einer solchen Gesellschaft sollen befähigt und ermutigt werden, ihre privaten und gesellschaftlichen Bedürfnisse ohne Hierarchie und Bevormundung mit einem Minimum an Entfremdung selbst in die Hand zu nehmen. Die Eckpfeiler sind: Freiheit und Solidarität (Stowasser, 1995: 10ff). Hier sehen wir ein „machiavelli‘sches bzw. republikanisches Element im Anarchismus, welches, wie wir später noch feststellen werden, auch in der radikalen Demokratie enthalten ist. Die reale Umsetzung dieser anarchistisch-theoretischen Grundlage, soll entgegen den autoritären Zentralismus, also in Form von Föderalismus stattfinden. Besonders am anarchistischen Ansatz des Föderalismus ist, dass er das Konstrukt des Staates als eine Despotie verneint und somit für eine offene und freie Bildung von vielen parallel existierenden Gesellschaften plädiert. Mit den Worten des Philosophen Gustav Landauer:

Anarchie ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften„ (Landauer zit. n. Stowasser 1995: 15f).

Dieser soeben genannte Ansatz ist an der Inklusion aller in einer Gesellschaft interessiert und auch hier bestehen gewisse Parallelen zur radikalen Demokratie. Zum Abschluss von diesem ersten begriffstheoretischen Teil, werde ich die dezisionistische Demokratietheorie und das Staatsverständnis von Chantal Mouffe erläutern.

2.3 Die radikale Demokratie:

Als „radikal“ versteht sich die politische Theorie von Mouffe (und Laclau) insofern, als sie keine transzendentalen Rahmenbedingungen, Verfahren oder Institutionalisierungsformen von Demokratie zulässt, die nicht selbst wieder in demokratischen Auseinandersetzungen in Frage gestellt werden könnten. Damit der hier verankerten Kampf um Hegemonie (im diskursiven Raum der Öffentlichkeit) nicht zu einem „Krieg“ wird, muss sich diese demokratische Auseinandersetzung in institutionellen Bahnen bewegen, die nur der Staat bereitstellen kann (vgl. Hetzel 2009: 11; Mouffe 2000: 103; vgl. auch Mouffe 2007). Dieser Drang nach Sedimentierung und Institutionalisierung einerseits und das Verlangen nach einer Staatsgewalt (Gewaltmonopol) andererseits sind Elemente die ganz und gar nicht kompatibel mit anarchistischen Staatstheorien sind und somit werden sie Eckpfeiler meiner Kritik werden (vgl. Kapitel 3).[6] Doch vorerst möchte ich weiter die radikale Demokratie und ihr Staatsverständnis erläutern: Mouffes radikaldemokratischer Diskurs befindet sich im postmarxistischen Lager. Dieses ist in zwei Lager geteilt: „in solche, die wie Slavoj Zizek und Alain Badiou, auf den Akt und das Ereignis setzen, ja: die das Politische mit dem Akt und dem Ereignis identifizieren und solche, die das Politische eher, wie etwa Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, an einen demokratischen agon binden (Hetzel 2009: 4)“. Die beiden erstgenannten sehen die Demokratie als eine den Kapitalismus begünstigende Regierungsform, weil dieser eine vermeintliche Alternativlosigkeit innewohnt (Badiou/ Zizek 2005: 87). Den soeben beschriebenen „Sprung in das Unbekannte“ wagt Mouffe nicht und bleibt bei der Auffassung, dass sich die Demokratie durch ihre „Grundlosigkeit“, also nicht „durch einen Rekurs auf universale Werte oder kategoriale Rechtsprinzipien, die den demokratischen agon von außen begrenzen“ (Hetzel 2005: 7) legitimiert. Also Demokratie ist demnach eine universelle Bühne einer Auseinandersetzung, die weder positive Inhalte noch absolute Werte besitzt. Dies liegt ganz im Stil der Essex School, welche sowohl holistische Geschichtsinterpretationen als auch den Essentialismus und die „absolute Moral und Wahrheit“ strikt verneint. Zentral ist nun folgende Charakteristik in Mouffes Staats- und Demokratieverständnis: Der Ausgangspunkt ist das agonistische Modell des Politischen, welches sich sowohl vom Kontraktualismus, als auch vom konsensualistischen Modell deutlich abgrenzt. Dem ist so, weil für Mouffe alle politischen Beziehungen nur innerhalb eines hegemonialen Feldes sich kontingent herausbilden. Somit ist die kleinste politische Einheit nicht, wie etwa beim Liberalismus das Individuum, sondern eine antagonistische Beziehung. Die radikale Demokratie erkennt die Allgegenwart von Machtverhältnissen und Antagonismen an, ganz im Sinne vom französischen Philosophen Michel Foucault (2005), welcher die „produktiven Seite der Macht“ betonte. Demokratie wird hierbei, im Sinne von Claude Lefort (1990)[7], als ein „leerer Ort der Macht“ angesehen. Und insofern sieht sich die radikale Demokratie als ein kontingenter Besatzungsversuch des leeren Ortes der Macht, welcher zwar hegemonial operiert, jedoch sich nicht als einzig richtige Position verabsolutiert (vgl. Stäheli 2001). Und noch ein letzter wichtiger Punkt: Mouffe verteidigt explizit und mehrfach die Institutionen des Wohlfahrstaates und sieht darin den Kern der europäischen Identität (vgl. Hetzel 2009: 12). Und nun zum expliziten Vergleich:

2.4 Differenzen der Positionen:

Hier in diesem Abschnitt analysiere ich die theoretischen Positionen des postnationalen Republikanismus und des solidarischen Anarchismus in Bezug auf die radikale Demokratie. Dabei gehe ich speziell ein auf deren Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede im Bezug zum Staat. Dieser Schritt ist wichtig um Mouffes Staatsverständnis besser zuordnen bzw. besser angrenzen zu können.

2.4.1 Unterschiede und Gemeinsamkeiten:

Mouffe zieht mit ihren theoretischen Instrumenten in den Kampf gegen den Liberalismus. Anders formuliert: sie zeigt deutlich die Mängel des vorherrschenden (liberalen) Demokratiemodells. Sie kritisiert vor allem die Blindheit des Liberalismus gegenüber „der Natur des Politischen als auch gegenüber der Unauslöschlichkeit des Antagonismus“ (Mouffe 2004: 42). Dabei unterstreicht sie, dass der Liberalismus auf dem „Fundament von Rationalismus und abstraktem Universalismus“ gebaut ist und somit den Bereich der „Politik von Leidenschaften gesäubert hat“ (ebd.). Diese Kritik am Liberalismus teilt auch der kommunitaristische Anarchismus, als auch feministische Staatstheorien (vgl. Ludwig 2015). Wie schon im begriffstheoretischen Teil erwähnt, stehen sich Liberalismus und Republikanismus diametral gegenüber. Die zentrale Differenz zwischen dem Liberalismus einerseits und dem Anarchismus und der radikalen Demokratie (Mouffe) anderseits liegt in der anthropologischen Annahme über die ontologische Beschaffenheit des Menschen. Das partizipative Einbinden einerseits und das Verhindern von Exklusion ist das Kernelement der radikalen Demokratie und des kommunitaristischen Anarchismus, da beide Positionen von einem positiven Menschenbild ausgehen. Mouffe will die „Leidenschaften mobilisieren“ und verlangt eine „Rückkehr zum Politischen“, um einen „Föderalismus[8] von unten“, welcher in konfliktiv integrierte Systeme ausgeübt wird zu forcieren (Mouffe 2004: 48-52). Auch dies weist große Ähnlichkeiten mit dem eingangs von mir erwähnten kommunitaristischen Anarchismus und dessen Verständnis von Föderalismus. Dem Liberalismus hingegen wohnt ein inhärentes Misstrauen[9] gegenüber dem Menschen inne, welches sich nicht nur in der anthropologischen Annahme, sondern auch in der gesamten Staattheorie wiederspiegelt. Dieses Misstrauen findet sich demnach auch in den Vertragstheorien von Hobbes (der Gründervater der liberalen Staatstheorie) und zum Teil auch bei John Locke wieder. Mouffe kämpft mit der radikaldemokratischen Staatsbürgerschaft, genau wie der Anarchismus, gegen Rassismus und beteiligt sich am Kampf des Feminismus (Mouffe/ Laclau 1993: 11). Noch eine Gemeinsamkeit besteht darin, dass sich die radikale Demokratie sowohl gegen den „selbstzerstörerischen Partikularismus“, als auch gegen jegliche Art von Universalismus richtet (ebd.: 14). Ein Problem, dass sowohl dem Anarchismus als auch der radikalen Demokratie inne wohnt, ist „die paradoxe Ausgangslage“: das Unentscheidbare muss entschieden werden (vgl. Stäheli 2001). Die zu treffende Entscheidung kann nicht von bereits bestehenden und sedimentierten Normen, Regelns und Erfahrungen abgeleitet werden, sonst wäre ja der Diskurs bereits entschieden. Und ein weiteres Problem ist: Wer soll überhaupt die Legitimation haben zu entscheiden? Dies deutet darauf hin, dass es keinen rationalen Weg gibt, eine derartige politische Entscheidung herbeizuführen. Hier bewegen wir uns im Bereich des Politischen und in einem Denken das Kreativität fordert um die bestehenden Sinnhorizonte nicht nur zu hinterfragen, sondern diese auch zu verändern. Und nun zum Vergleich mit dem Republikanismus:

Die republikanische Tradition vor allem dank Claude Lefort, spielt in der radikalen Demokratietheorie eine herausragende Rolle, wie schon weiter oben (Fußnote 7) erwähnt wurde. Lefort kommt Arendts Position am nächsten, welche stark an der republikanischen Tradition anknüpft. Diese sieht sich als „dritter Weg“ zwischen Kommunitarismus und Liberalismus (Skinner 1984), genauso so wie der Anarchismus als „dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus angesehen werden kann. Was den Liberalismus von den bisher erwähnten Positionen strikt unterscheidet ist, dass diese das Politische nicht allein im Staat lokalisieren (vgl. Marchart 2001: 168f). Ein wichtiger Punkt muss abschließend noch erwähnt werden: Die demokratische Selbstregierung in der radikalen Demokratietheorie von Mouffe, bedarf zwar eines „Demos“ (für die demokratische Selbstregierung), dieser jedoch konstituiert sich nicht notwendigerweise in einem Nationalstaat (Mouffe 2004: 51). An diesem kritischen Punkt würde ich mit Claude Lefort („wilde Demokratie“) und Miguel Abensour sogar einen Schritt weitergehen und die Demokratie gegen Staat stellen (vgl. Abensour 2011).[10]

Abensour begreift den Staat als das Instrument der Eliten, mit dem diese ihren Willen zur Herrschaft durchsetzen, wohingegen die Demokratie im buchstäblichen Sinne die politische Form ist, in der das Volk sein Streben nach Freiheit auslebt“ (Münkler 2012).

Mit diesen soeben genannten Aspekten kann in Summe also festgehalten werden, dass die radikale Demokratietheorie von Mouffe dem kommunitaristischen Anarchismus und freiheitlichen Republikanismus weitaus näher liegt, als dem Liberalismus. Anhand der Begriffe wie „Zivilgesellschaft“ und dem „Leeren Ort der Macht“[11], können deutlich gewisse Ähnlichkeiten und Verbindungen zum freiheitlichen Republikanismus festgemacht werden. Die radikale Demokratie kann jedoch nicht in einem dieser genannten Strömungen und Denkschulen eingeordnet werden und befindet sich somit etwas isoliert im Bereich der „dezisionistische Demokratietheorie“. Und nun zu meiner Kritik an Mouffes Staatsverständnis:

3 Kritik an Mouffes Staatsverständnis:

States make war and war makes states“ – Charles Tilly (1990)

Mein Kritikpunkt an Mouffes Staatsverständnis schließt sich zum Teil der Kritik von Badiou und Zizek an, welche behaupten, dass „moderate politische Positionen, sich in den Horizont der heutigen politischen Institutionen stellen, dazu neigen den Kapitalparlamentarismus und damit die Vorherrschaft des Ökonomischen unangetastet zu lassen“ (vgl. Zizek, zit. In Hetzel 2005: 9). In dem man die politischen Fundamente der heutigen Gesellschaft nicht radikal dekonstruiert und verneint, wird das TINA-Prinzip („there is no alternative“) weiterhin für eine wachsende ökonomische und soziale Ungleichheit, für eine zunehmende Immoralität und Instabilität der Weltwirtschaft und zu einer ökologischen Zerstörung des Planeten führen (vgl. Zizek et al 2000: 90-135). Wie kann die Logik des Expansionismus (welche zum Imperialismus und zum Zweiten Weltkrieg geführt hat), des fortwährenden Wirtschaftswachstum und der „jagt“ nach Rohstoffen je in Grenzen gesetzt werden, wenn die Mechanismen die zu dieser Logik geführt nicht verneint werden? Diese soeben beschriebene Logik bzw. diese instrumentelle Vernunft der Moderne ist doch die Hauptursache für die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise und somit auch des modernen Staates, samt seinen politischen Institutionen.[12] Ein konkretes und zentrales Element des Liberalismus ist eng gekoppelt mit dem aufsteigenden Bürgertum (nach der französischen Revolution) und somit auch mit der Entstehung des modernen Staates, nämlich das Privateigentum (an den Produktionsmitteln). Genau dieses Zentrum des liberalen Wert- und Handlungssystems ist nicht nur ein konstitutives Element bei der Entstehung des modernen Staates, sondern ist vor allem ein Exklusionsmechanismus schlechthin. Um dieses Argument weiter zu vertiefen und aufzuzeigen, dass genau diese aufgeklärte instrumentelle Rationalität und der metaphysische[13] Glaube an eine teleologische menschliche Entwicklungsgeschichte fundamentale Bausteine waren in der Entstehungsgeschichte des modernen Staates, muss ich vorerst die Verzahnung vom liberalen Rechtsstaat und der kapitalistischen Produktionsweise beschreiben. Genau dies führt mich auch schon zu weiteren Kritikpunkten: Meine Argumentationslinien verlaufen anhand von folgenden Dimensionen, welche konstitutiv waren für die Entstehung und für den Fortbestand des modernen Staates:

  • Das liberale Trennungsdispositiv (Sauer 2001): Also die Trennung zwischen den gesellschaftlichen Bereichen „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“.
  • Die Verschmelzung von kapitalistischer Produktionsweise (Industrialisierung, doppelte Buchhaltung, Zinseszinssystem…) und der Entstehung des modernen Staates (Brown 1992).
  • Die prärogative Dimension des Staates (Hoheitsgewalt bzw. Gewaltmonopol): Die Soziologen Charles Tilly (1990) und Geoffrey Ingham (2004), die Historiker Wolfgang Reinhard (2002) und Johann Dvorak (2011), sowie der Anthropologe David Gräber (2012) sehen im Gewaltmonopol und im Krieg die Wurzel des Staates.
  • Die Bürokratische Dimension des Staates: Hierbei spielt die instrumentelle Rationalität im Zuge der Aufklärung eine große Rolle (vgl. Brown 1992; Ludwig 2015).
  • Der Prozess der Konsolidierung als Nebenbedingung des sog. ‘extraction-coercion-cycle’ (Tilly 1990; Reinhard 2002). Hierbei geht es um den hegemonialen Prozess der Machterweiterung bzw. Machterhaltung.

Die Frage die meine Kritik an Mouffe begleitet ist: Wenn sich die radikale Demokratie gegen jede Art von Exklusion wendet (Hetzel 2009: 13)[14], wie kann sie dann die Geschichte des modernen Staates, also die Geschichte voller Gewalt, Krieg, Machtkämpfe, Intrigen und Exklusion scheinbar ignorieren? Die sedimentierte Form des Politischen artikuliert sich in den (staatlichen) Institutionen, entsteht aus gewissen Machtverhältnissen und hat eine exkludierende Grenze. Die Frage hierbei ist jedoch, wo die Staatsgewalt ihre Grenzen zog? Und cui bono? Vor nicht allzu langer Zeit waren Frauen und Nicht-Besitzende Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen. Die erwähnte sedimentierte Form des Politischen sieht man am deutlichsten in der Verfassung. Diese sind das Fundament des Rechtsstaates. Verfassungen spiegeln die soziale Realität, also die Macht- und Herrschaftsverhältnisse einer Gesellschaft wieder (Kreisky 2002: 59f). Sowohl Eva Kreisky, als auch Hannah Arendt, sehen hinter den politischen Institutionen (vor allem der Verfassung) stets die Macht (vgl. Kreisky 2002: 61; Arendt 1970: 42). Speziell in Österreich sieht diese Machtkonstellation düster aus, da das Erbe des Zweiten Weltkriegs eine „Demokratie ohne Begeisterung“, also eine „Stellvertreterpolitik ohne republikanische Tugenden“ hinterließ (Kreisky 2002: 71f). Obwohl im demokratischen Rechtsstaat diese Grenze, bzw. diese verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen veränderbar sind, ist der gesamte Entstehungskontext selbst kritisch zu hinterfragen. Wie legitimiert Mouffe (staatliche) Institutionen und sedimentierte politische Strukturen? Laclau und Mouffe operieren eher „von innen“ und denken aus den real bestehenden Institutionen heraus (Hetzel 2009: 10). Das Politische bedarf der Institutionalisierung, weil sich andernfalls jede subjektive Sicht für Ganze, fürs Objektive halten darf. Ideen sind demnach also angewiesen auf Institutionen, deren Funktion aber gerade darin besteht, alle möglichen Interpretationen auszuschließen und die institutionelle Deutung an deren Stelle zu setzen. So betrachtet sind „die eigentlichen Möglichkeitsbedingungen der Ausübung von Demokratie zugleich Bedingungen der Unmöglichkeit demokratischer Legitimität“ (Mouffe 2008: 60). Bei genauer Betrachtung handelt es sich um das Paradox namens „Entschiedene Unentscheidbarkeit“, welches ich schon im begriffstheoretischen Teil erwähnte. Ich halte es für ein sich selbstwidersprechende Problem, welches ich mit den Worten von Paul Watzlawick am besten beschreiben kann: „Wenn die Lösung das Problem ist[15]. Oder um es mit einem einfachen Beispiel zu umschreiben:

Mouffe und Laclau verstricken sich tendenziell, darin wäre Badiou und Zizek Recht zu geben, in ein ähnliches Problem wie eine bestimmte Art von Technikphilosophie, die darauf hofft, dass sich die bedrohlichen Folgen der Technisierung mit Hilfe der Technik selbst beheben lassen, etwa mit der Erfindung neuer, umweltfreundlicher Technologien.“ (Hetzel 2009: 10).

Im Sinne der radikalen Demokratie hält Mouffe an den Institutionen der sog. „formalen Demokratie“ und an den wohlfahrtstaatlichen Elementen fest (Mouffe 2007: 71), lässt aber scheinbar die oben erwähnte Widersprüchlichkeit unbeantwortet.[16] Die exklusive Rolle der Verfassungspolitik (also der sedimentierten Form des Politischen) wird von Mouffe und Vertretern des Essex School zwar erkannt und problematisiert (vgl. Hetzel 2009: 122ff), münden schlussendlich in einem Kontraktualismus bzw. Konsensualismus, wenn auch mit einem breiten Partizipationselement. Die radikale Demokratie liefert insofern ein „Supplement“ für den bestehenden „status quo“, da sie lediglich die bestehende Interaktion zwischen Gerichten und den politischen Institutionen um eine weitere politische Institution ergänzt, nämlich um die „verfassungsgebenden Versammlungen“ (vgl. Hetzel 2009: 122ff). Es handelt sich hierbei um eine Re-Organisation und institutionelle Innovation (z.B. Popular Asemblies) aber nicht um eine radikale Veränderung des bisherigen Herrschaftssystems. In dem also die bisherigen Strukturen nicht verneint werden, sondern „nur reformiert“ werden, bestätigt man gleichzeitig deren Legitimation und somit begibt man sich doch wieder in der Legitimationsstruktur der Vertragstheoretiker. Auf der anderen Seite erfordert gerade der exklusive Mechanismus der Institutionen ein gewisses Maß an (Minimal-)Konsens, sonst würden diese keine realpolitische Legitimität haben. Wenn man sich schon eines solchen „strategischen Essentialismus (Spivak 2014)“ bedient, warum nicht gleich radikal, indem man sich nur auf die Basis- bzw. Versammlungsdemokratie konzentriert? Warum dies problematisch ist, erläutere ich anhand der Dekonstruktion des modernen Staates.

3.1 Zur Dekonstruktion des modernen Staates:

Eine kurze geschichtliche Exkursion gibt einen Einblick worauf meine weiter oben erwähnte Kritik basiert: Um den Wohlfahrtstaat verstehen zu können, für welchen sich Mouffe stark macht, müssen wir uns zunächst einmal die Genesis des modernen Staates ansehen. Die Entstehung des modernen Staates in Europa war eng verbunden mit dem Kapitalismus, sowie mit den politischen Revolutionen, die den Feudalismus beseitigten und zugleich Konstitutionen und damit verbunden diverse Formen parlamentarisch-demokratische Systeme etablierten. Die Folge: die Vernichtung von Ständeversammlungen und Ansätzen von Verfassungen und Volksrepräsentation; Schaffung neuer Formen der Königsherrschaft (Absolutismus), welche sich auf die militärische Gewalt stützen. Die Französische Revolution (1789), bzw. Februarrevolution (1848), der englische Bürgerkrieg (1642) und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 waren Eckpfeiler der Vorstellung von der individuellen Freiheit und Eigentumssicherung (vgl. Hochgerner 2011, Dvorak 2011). Diese „Freiheit“ galt historisch betrachtet nur für weiße, privilegierte, angelsächsische, besitzende, überwiegend heterosexuelle Männer – da Frauen, Besitzlose, Farbige und Sklaven nicht zur offenen und freien Gesellschaft der Wähler zählten (Heteronormativität).[17] Die Idee des Privateigentums ist hierbei nicht nur für unser „modernes Demokratieverständnis“ von großer Bedeutung, sondern auch ausschlaggebend für die Entwicklung des modernen Staates. Da die Bourgeoisie die Notwendigkeit eines Gewaltmonopols, also eines Staates darin sah, ihr Eigentum sowohl von den Gefahren der (Basis-)Demokratie („Volksherrschaft“), als auch vor den Gefahren des Absolutismus zu schützen (vgl. Dvorak 2011), schlägt sich dieser hegemoniale Diskurs auch in der juridisch-legislativen Dimension nieder. Etwas anders formuliert:

Dass die Herrschaft der Gesetze eine Herrschaft der bürgerlichen Elite im Interesse ihrer soziale Klasse war, das versuchte ebendiese Doktrin von der Herrschaft der Gesetze ideologisch zu verschleiern. Wenn nach der liberalen Doktrin das Gesetz der Souverän ist und diese Souveränität in der Herrschaft von Gesetzen und nicht von Menschen besteht, dann ist es auch „überflüssig“ zu erwähnen, dass Menschen herrschen, wenn sie auch im Rahmen von Gesetzen regieren“ (Neumann 1967: 23f).

Gleichzeitig täuscht die Doktrin von der Vorherrschaft der Parlamentsgesetze über die eigenständige Rechtsschöpfung durch Verwaltung und Regierung hinweg“ (Döhn 1974: 37).

Historisch kann dies eindeutig nachvollzogen werden: Im deutschen Kaiserreich repräsentierten die Richter das Bündnis zwischen Monarch, Armee, Bürokratie, Großgrundbesitzern und dem Bürgertum. Da die Gesetze ein Ergebnis dieses Bündnisses waren, entsprach die wirtwörtliche Auslegung der Gesetze den diesem Bündnis zugrundeliegenden Interessen. Die einfache Logik hinter diesen soeben erwähnten Begriff des Bündnisses kann mit der Verflechtungsanalyse vom deutschen Historiker Wolfgang Reinhard und anhand des Begriffes ‘extraction-coercion-cycle’ vom US-Soziologen Charles Tilly leicht skizziert werden. Darauf komme ich im nachfolgenden Punkt noch zu sprechen. Doch zurück zur Kritik an Mouffe: „Selbst wenn es legitim ist, das Recht von der Idee der Herrschaft zu trennen und mit der des Widerstands zu verknüpfen, stellt sich die Frage, ob dieser Kamp für das Recht, der in letzter Instanz auf die Anerkennung und Sanktion strittiger Rechte seitens des Staates abzielt, nicht nolens volens auf ein Widererstarken des Staates oder schlimmer noch auf eine permanente Rekonstruktion des Staates hinausläuft? Bestätigt nicht letztlich jede noch so progressive Anrufung des „Rechts auf“ die staatlichen Strukturen, so als ob nichts ohne die Zustimmung des Staates geschehen dürfe?“ (Abensour 2014).

3.1.1 Erzwingungs- und Extraktionskreislauf (coersion-extraction-cycle):

Im Wettkampf um Macht, rivalisierten sich Familien, Dynastien, Kriegerstämme und später Monarchen, Adelige, Aristokraten und der Klerus bzw. die Kirche. Dies war, um mit den Worten von Mouffe zu argumentieren, ein Kampf um Hegemonie. Den Machtbereich konnten diese im „inneren“ ausweiten (Ausbeutung, Indoktrinierung, Konsolidierung), oder im verbündeten Kampf nach „außen“ (Expansionskriege). Dieser Wachstumsdrang ist insofern pyramidal aufgebaut, da die Dynastien Helfer heranziehen mussten im Kampf gegen den verfeindeten Adel und der Kirche, wobei dadurch neue Machteliten entstanden, die an der Herrschermacht teilnehmen durften (Konsolidierung) und so deren Wachstum auch zu ihrem Wachstum machten. Als sich nun einige Familien konsolidierten und die Macht so weit ausbauten, dass sie den Krieg, Patriotismus und sogar die Religion in den Dienst ihrer eigenen Zwecke missbrauchten, wuchs die Staatsgewalt kontinuierlich an. Krieg war somit, wie schon erwähnt, ein Eckpfeiler des Staatswesens und ist ein grundlegender Faktor der Machtakkumulation. Kriege wurden jedoch oftmals über Kredite finanziert, was zur Symbiose von Staat und Kapital führte. „Die Kämpfe um die Erhebung von Steuergelder und deren Distribution zwischen dem Monarchen, der Aristokratie und dem Stadtbürgertum, steht laut Elias (1977: 279ff) im Zentrum der Soziogenese des modernen Staates.“ Das Resultat ist logisch: Auf der einen Seite brauchte der neue Steuerstaat einen wachsenden Extraktions- und Erzwingungsapparat und auf der anderen Seite entstand ein perpetuum mobile: Ressourcen- und Steuereinnahmen und der Erzwingungsapparat schaukelten sich hoch und bedingten einander, bis auf diese Weise das ständige Wachstum der Staatsgewalt irreversibel geworden war. Dieser „coersion-extraction-cycle“ (Charles Tilly 1990) ist zwar nicht in allen Ländern gleich ausgebildet, aber auf dem Weg zum „modernen Staat“ vorübergehend überall zu beobachten (Vgl. Reinhard, 2002: 22ff). Aus diesem Erzwingungs- und Extraktionskreislauf kristallisierte sich mit der Zeit nicht nur ein Prozess der Hegemonie mit sich, sondern brachte auch den bürokratischen Staatsapparat zum Vorschein, welcher mit fortlaufender (gesellschaftlicher) Komplexität scheinbar notwendig wurde. Zu diesem Aspekt komme ich jetzt zu sprechen:

3.1.2 Bürokratische Apparate (die entmenschlichte instrumentelle Rationalität):

Die technische Effizienz dieser bürokratischen Maschinerie liegt laut Weber (1922: 239) in der „Entmenschlichung“, also in der Ausschaltung der Emotionen. Somit wurden Herrschaftsbeziehungen laut Weber (1922: 246) „vergesellschaftlicht„ woraufhin die Masse an Individuen besser gelenkt, geordnet und geleitet werden konnte. Weber personalisiert die Macht dieser bürokratischen Herrschaft nicht, sondern meint:

Ein rational geordnetes Beamtensystem funktioniert, wenn der Feind das Gebiet besetzt, in dessen Hand unter Wechsel lediglich der obersten Spitzen tadellos weiter, weil es im Lebensinteresse aller Beteiligten, einschließlich vor allem des Feindes selbst, liebt, dass dies geschehe“ (Weber 1922: 247).

Wie vorausblickend und zutreffend diese Analyse ist, angesichts der NS-Strukturen die weiterhin nach dem Zweiten Weltkrieg fortbestand, auch in der Sozialdemokratie (Rosenberger, Pelinka 2007: 31ff), ist einerseits erschreckend, zeigt jedoch andererseits die große Bedeutung des realistischen Denkens Webers. Die sedimentierte Institution und das Gewaltmonopol im Hinblick auf die Bürokratisierung der Gesellschaft kann mit den Worten des französischen Soziologen Proudhon (1963: 363) folgendermaßen verdeutlicht werden:

Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu (…) werden. Regiert sein heißt, bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfasst, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizensiert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, behindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu sah den Staat ebenfalls in jeden Lebensbereich eindringen, wobei ein entrinnen dieses Prozess ihm als unmöglich erschien (vgl. Bourdieu: 2014). Und wie steht es mit der Transformation des modernen Staates zum heutigen Wohlfahrtstaat?  Das scheinbare Argument für einen distributiven Staat, der sowohl das Gewaltmonopol innehält, als auch legal (Steuer)- Geld eintreiben „darf“ ist mehr oder minder folgende Argumentationskette:

Er sorgt sich für die Post, Eisenbahn, Krankenhäuser, Universitäten und Schulen, für den Straßen- und Brückenbau, bis hin zu Rentenversorgung, Altersversicherungen und Arbeitslosenunterstützungen.“ Aber bei einem genauen Blick sieht man, dass all diese positiven Eigenschaften nicht in der Genesis des Staates zu finden sind und dass diese unabhängig von Regierungen entstanden sind. Ihre Ursprünge liegen in Dorfgemeinden, Klöstern, Handwerkgilden, Privatfirmen, Einzelinitiativen oder der kollektiven Selbsthilfe der Betroffenen“ (Stowasser, 1995: 28).

Genau wie der Erwerb des Wahlrechts hart umkämpft war, so fielen auch die distributiven Elemente des Wohlfahrtstaates nicht vom heiteren Himmel. Bestand hat dieses patriarchale Muster der systematischen Exklusion auch im (konservativen und liberalen) Wohlfahrtstaat, angesichts der „male-breadwinner-societys“ bzw. angesichts von unbezahlter Care-Arbeit (vgl. Lewis 1992) und angesichts der quantitativen (Unter-)Repräsentation von Frauen in fast allen politischen Institutionen (weltweit). Diese systematische Exklusion betrifft nicht nur den wirtschaftspolitischen Bereich, sondern reicht bis in die Grundbausteine des modernen Rechtsstaates zurück, betrifft nämlich direkt die Verfassungen:

Die am Gründungsakt Beteiligten, die sozial und politisch Mächtigen also, in der Folge aber auch die Gründungsmythen einer politischen Ordnung, spielen eine herausragende Rolle für das Wertekostüm, das eine Verfassung repräsentiert, aber auch für die soziale Akzeptanz und Geltung von Verfassung“ (Kreisky 2002: 60).

Phallogozentrisch[18] wurde die Frau in der maskulin geprägten Verfassung normiert. Dies spiegelt aus einer intersektionalen Perspektive nicht nur den Androzentrismus bzw. Maskulinismus des liberalen Staates wieder, welche jeweils maskuline Logiken zur Norm gesetzt haben, sondern „spiegelt den Diskurs und die Praktiken wieder einer bürgerlichen, weißen, heterosexuellen, nicht-,“behinderte“ Männlichkeit wieder (Sauer 2001: 17ff; Ludwig 2017: 45)“. Ein weiterer Aspekt der den (Wohlfahrt-)Staat tangiert ist die hierarchische Trennung zwischen zwei gesellschaftlichen Bereichen: nämlich „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“. Schon seit der Antike und seit es staatähnliche Strukturen gab, sehen wir diese Trennung.

3.1.3 Das liberale Trennungsdispositiv und die prärogative Dimension:

Aus einer juridisch-legislativen Dimension gilt der Staat als öffentlich, dies setzt jedoch zugleich die als privat geltende Familie als sein Konterpart voraus. Das öffentliche bzw. die Öffentlichkeit ist gekennzeichnet durch das Gewaltmonopol und gilt allgemein und universell, hat seinen legitimatorischen Ursprung einer scheinbar tiefenpsychologischen Sehnsucht nach einem „väterlichen Beschützer“. Kaum verwunderlich also, dass in diesem Kontext vom „Vater Staat“ die Rede ist.[19] Doch abgesehen von dieser prärogativen Dimension die punktuell schon angeschnitten worden ist, stellt sich eine zentrale Frage: Inwieweit ist der moderne Staat von diesem liberalen Trennungsdispositiv überhaupt zu lösen? Die sedimentierte Form des Politischen findet sich im „öffentlichen Bereich“ wieder und erhebt auch wenn nur temporär Anspruch auf Universalität. Bildet also jenen Bereich, der hierarchisch über dem „Privaten“ bzw. der „Privatheit“ konstruiert wurde. Genau diese Trennung zwischen „öffentlich“ und „privat“ legitimierte jahrzehntelang die Verdrängung von Frauen in die Privatsphäre, degradierte diese zu Hausfrauen, bei einer formal-rechtlichen Gleichstellung. Diese Kritik durchzieht den feministischen Diskurs und ist ein Hauptkritikpunkt nicht nur am liberalen Staatsverständnis (Pateman 1989; Sauer 2001). Der Staat ist nicht jener Ort der alle Einzelinteressen absorbiert und somit als ein neutraler Ort dasteht. Dies würde an die Analogie von Leibniz erinnern, demzufolge Gott der der geometrische Ort aller gegensätzlichen Perspektiven ist – jener gezeichnete Standpunkt aller Standpunkte, der kein Standpunkt mehr ist, weil sich an ihm alle Standpunkte ausrichten.[20] In dem die radikale Demokratietheorie von Mouffe an den institutionellen Rahmenbedingungen und an wohlfahrtstaatlichen Elementen festhält, muss sie gleichzeitig an der vorhin erwähnten, wenn auch nur temporären, „Absolutheit“ bzw. „Universalität“ der staatlichen Strukturen festhalten. Und nun komme ich auch schon zum Resümee:

4. Conclusio:

Mouffes radikale Demokratietheorie enthält sowohl republikanische Elemente, als auch anarchistische Züge. Im Grunde setzen sich sowohl der Republikanismus, der Anarchismus, als auch die radikale Demokratietheorie gegen den bestehenden „Mainstream“, also gegen das liberale Staats- und Demokratieverständnis ein und plädieren für eine emanzipatorische und partizipierende Zivilgesellschaft und somit Aufwertung des Politischen. Mouffe setzt sich mit anderen Worten für die Mobilisierung der Leidenschaften ein. Dies jedoch steht wie wir sahen (Kapitel 3.1.2) im Widerspruch mit dem Festhalten an den entmenschlichten Mechanismen der Bürokratie (staatliche Institutionen).

Im Wesentlichen muss aber strikt von den besprochenen Positionen unterschieden werden, da sie sich in ihren „Lösungen und Zielsetzungen“ unterscheiden. Mouffe und ihr demokratietheoretischer Ansatz kann sowohl linken sozialen Bewegungen, als auch anarchistischen TheoretikerInnen einen wichtigen Impuls geben. Die Begriffe mit denen diese Theorie arbeitet, wie u.a. „Hegemonie“ (Gramsci), „leerer Signifikant“ (Saussures), „leerer Ort der Macht“ (Lefort), können nicht nur soziale Phänomene unserer Zeit (wie u.a. den Rechtspopulismus) besonders analytisch erklären, sondern können die Antriebsfeder für eine neue politische und „Linke“ Organisationen sein. In Bezug auf das Staatsverständnis jedoch trennt sich meine Konformität mit der Essex-School, aufgrund der Tatsache, dass mir die radikale Demokratie (allein) in dieser Hinsicht nicht „radikal“ genug erscheint, sondern wie Zizek zu Recht kritisiert diese ins Lager der „Moderaten“ hinein fällt. Bei einer Dekonstruktion des Staates, kann die Aufrechterhaltung der Staatsgewalt bzw. der Herrschaft von Menschen über Menschen nicht moralisch legitimiert und gerechtfertigt werden. Egal ob man den Staat diskurstheoretisch (Derrida), machtanalytisch (Foucault), anthropologisch (Bourdieu), systemtheoretisch (Luhmann), oder marxistisch (Marx) erfassen möchte, die Genealogie des Staates spricht eine eindeutige Sprache und hinterlässt heute noch seine (blutigen) Spuren der Exklusion. Zwar liefert Mouffe wichtige Elemente für eine partizipatorische Demokratie (z.B. für Popular Asemblies), befreit jedoch „das Politische“, den „Augenblick des Aktes“ und den „agon“ nicht von den Ketten der sedimentierten Politik und des Gewaltmonopols.

Persönliche Schlussworte: In Summe halte ich fest, dass Mouffes Demokratietheorie sowohl eine wichtige theoretische Ergänzung darstellt, indem sie gegenhegemonial eine „Demokratisierung der Demokratie“ in Zeiten der Postdemokratie fordert (vgl. Marchart 2007: 188f), als auch einen eklatanten Widerspruch in sich birgt. Für mich persönlich ist es interessant, dass Mouffe mit ihrem Buch „The Democratic Paradox (2000)“ den Widerspruch zwischen Liberalismus und Demokratie entdeckte, aber den Widerspruch zwischen Demokratie und (National-)Staat nicht realisiert. Vielleicht eine Lücke in der Essex-School die auf Kosten eines „illusorischen Pragmatismus“ geschlossen werden kann?

Literatur:

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Stowasser, Horst (1995), Freiheit pur: Die Idee des Anarchismus, Geschichte und Zukunft, Eichborn, Frankfurt am Main.

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Waldron, Jeremy (1995), Theoretische Grundlagen des Liberalismus. In: Brink, Bert van den/ Reijen, Willem van (Hg.): Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Suhrkamp, Frankfurt a.M., S. 107-140.

[1] Der Begriff „kommunitaristischer Anarchismus“ beschreibt die Idee, dass ein gemeinschaftliches Zusammenleben ohne staatliche Herrschaft möglich ist (vgl. Celikates Robin/ Gosepath Stefan (2013), Grundkurs Philosophie, Band 6, Reclam, Stuttgart. Ich verwende diesen Ausdruck im Verlauf als Sammelbegriff für folgende anarchistische Strömungen und Theorien: Sozialer Anarchismus (Pierre-Joseph Proudhon, Gustav Landauer); Kollektiver Anarchismus (Bakunin); Kommunistischer Anarchismus bzw. Mutualismus (Kropotkin); Anarcho-Syndikalismus (Rudolf Rocker), Vgl. Stowasser 1995.

[2] Jeder Begriff der eine (längere) Geschichte hat, ist laut Koselleck (2006) schwer definierbar, da dieser mit vielen Interpretationen und Gewichtungen durch die Epochen verwendet wurde. Demzufolge muss also sowohl der sozio-kulturelle, als auch der historische Rahmen des Begriffes beachtet werden.

[3] Mit den Begriffen die ich versuche zu definieren, verhält es sich gleich wie mit den Begriffen „Sozialismus“, „Konservatismus“ und „Liberalismus“, weil sie wie Familiennamen sind und die Theorien, Prinzipien und Parteien die einen dieser Namen tragen, nicht mehr miteinander zu tun haben als die Mitglieder einer großen und weit verstreut lebenden Familie. Wenn wir die Spannweite der Auffassungen untersuchen, so werden wir wohl etwas finden, das Wittgenstein in einem anderen Zusammenhang als „ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen“ bezeichnet (Waldron 1995).

[4] Die enge Beziehung zwischen den liberalen Denken und dem Kontraktualismus einerseits, und dem Erbe der Aufklärung andererseits kann nicht genug betont werden und spielt eine große Rolle in meiner Staatskritik (Kapitel 3). Vgl: Waldron 1995: 116.

[5] Diese beiden Richtungen münden in einem radikalen Partikularismus und Individualismus, bieten insofern keine alternative Lösung für ein mögliches Gesellschaftsleben und sind genau deshalb für meine Staatskritik nicht zu gebrauchen.

[6] Meine Kritik an der Sedimentierung bzw. Institutionalisierung beziehe ich von Abensour. „Spinoza hatte zwischen der Natur als fertiger Gestalt und lebendigem Prozess unterschieden, und diese Doppelseitigkeit des Spinozaschen Naturbegriffs überträgt Miguel Abensour auf die Politik: Der Staat ist danach die fest gewordene Gestalt des Politikprozesses, die uns als eine fremde Macht gegenübertritt, wohingegen die Demokratie der politische Prozess in seiner ganzen Offenheit und Lebendigkeit ist“ (Münkler 2012).

[7] Eine gewisse Nähe der Arbeiten von Lefort und Mouffe sieht man explizit im Hauptwerk von Laclau/Mouffe 1991: 231f. Vor allem der demokratietheoretische Ansatz von Lefort, welcher die Demokratie als den leeren Ort der Macht sieht, wird von Laclau und Mouffe durchgehen in ihren Arbeiten verwendet.

[8] Föderalismus wird bei Mouffe explizit als eine Form von Autonomie verstanden. Anstelle eines Föderalismus von oben, der Macht und Ressourcen an die unteren Ebenen verteilt, favorisiert Mouffe einen Föderalismus von unten, mit der Struktur einer Pyramide, bei der Legitimität und Macht von den unteren Ebenen nach oben fließen. Quelle: Mouffe, Chantal (2004), Pluralism, Dissens, and Democratic Citizenship“, in: Fred Inglis; Wilfred Carr (Hg.): Education and the Good Society. Houndmills, Basingstoke, Palgrave Macmillan, 42-54.

[9] Der Liberalismus entstammt geschichtlich aus dem emporkommen der bürgerlichen Gesellschaft, welche historisch bedingt sowohl gegen den Absolutismus („Alleinherrschaft“), als auch gegen eine Basisdemokratie („Herrschaft aller“) Stellung bezog. Dies sehen wir am deutlichsten an der liberalen Elitendemokratie von Joseph A. Schumpeter (2005), Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, UTB Verlag. Hannah Arendt (1986) in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Piper Verlag, München, Zürich“, sieht diesbezüglich eine gewisse Ähnlichkeit vom bürgerlichen Judentum und zu dem soeben angesprochenes Verhältnis von Staat und Gesellschaft (bzw. Menschenbild).

[10] „In einem gewissen Sinne könnte die „wilde Demokratie“, so wie Lefort sie versteht, nämlich erhellt durch das Prinzip der Anarchie, ein mögliches Erscheinungsbild, ein Name, der Demokratie gegen den Staat sein. Wenn die wilde Demokratie durch die Auflösung von Sicherheit bietenden Bezugspunkten, durch die wiederholte Erprobung der Unbestimmtheit definiert ist, erscheint sie als schwer vereinbar mit einem Staat dessen Existenz ein Fundament, Sicherheit erfordert und sich auf ein erstes Prinzip stützt. Mit Marx argumentiert weiter Abensour, dass mit der Einführung der Demokratie der Untergang des politischen Staates eingeläutet wurde.“ Vgl. Abensour, Miguel (2011), Democracy Against The State. Marx And The Machiavellian Moment, Polity Press, Cambridge, S. XII-XX.

[11] Die Macht befindet sich in diesem Sinne auf der andauernden Suche nach eine Rechtfertigungsbasis, da es weder eine absolute Wahrheit, noch eine Person des Machtinhabers gibt. Diese Idee finden wir sowohl bei Lefort, als auch bei Mouffe wieder. Vgl. Marchart 2001: 175f.

[12] Zur instrumentellen Vernunft und zum „mechanistischen Weltbild“ der frühen Neuzeit, in Bezug auf deren wechselseitigen Einfluss auf den Liberalismus und Staat vgl. Prof. Walter Ötsch (Kulturhistoriker und Ökonom), Aus der Vorlesung „Themen und Theorien der Kulturwissenschaften I“ an der Johannes Kepler Universität Linz im Wintersemester 2012. URL: https://www.youtube.com/watch?v=npeZtkd_F8w&index=16&list=PLxR1evLJul6ZVUiQQNDR6m_mquWMDcFl- bzw. https://www.youtube.com/watch?v=_Zlov9CTf0s&list=PLxR1evLJul6bX87GMvm1JVeE7I3am3fOz&index=8.

[13] Im Grunde fußt auch der moderne Staat auf einer Metaphysik, angesichts dessen das „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe sind“ (vgl. Schmitt 1996:49).

[14] Die Essenz des radikaltheoretischen Gemeinschaftsdenkens erweist sich als Einspruch gegen jede Art von Exklusion und Verbesonderung, als Einspruch somit auch gegen jeden Kommunitarismus der Gruppe.  (vgl. Hetzel 2009: 13).

[15] Entnommen aus dem Vortrag „Wenn die Lösung das Problem ist“ gehalten von Prof. Dr. Paul Watzlawick, Tele-Akadamie, 3sat, übertragen am 12. August 2007.

[16] Im Bezug zum Wohlfahrtstaat: Um die Gefahren eines Aufstandes und Gewaltexzesse des kapitalistischen Staates (Faschismus, NS) zu verhindern und um den Klassenkampf zu entschärfen übernahm der Staat Aufgaben der sozialen Reproduktion und Distribution, transformierte sich so zum „Wohlfahrtstaat“. So wurden Gewerkschaften und weite soziale Teile in den Staat integriert. Vgl. Deppe, Frank (2015), Der Staat, Papy Rossa Verlag, Köln, S. 82f.

[17] Im Anschluss an Judith Butler (1991) konzipieren queer-theoretische Ansätze Sexualität und Geschlecht als diskursiv-kulturell konstruiertes Produkt sozialer Machtverhältnisse, die durch die heterosexuelle Matrix strukturiert ist. Das Zusammenspiel von Heteronormativität und Staat kann innerhalb der verschiedenen Ebenen und Arenen der Staatsapparate eine unterschiedliche, mitunter sogar eine sich widersprechende Form annehmen (Raab 2011). Vgl. Raab, Heike (2012).

[18] Phallogozentrismus entstammt dem dekonstruktivistischen Feminismus und meint, dass alle Weiblichkeitsentwürfe aus der Perspektive des Mannes betrachtet und artikuliert wurden. Somit wurde die Frau in der männlichen Sprache zum männlichen, das etwas anders ist, dargestellt. Vgl. Galster, Ingrid (2004), Französischer Feminismus: Zum Verhältnis von Egalität und Differenz. In: Ruth Becker, Beate Kortendiek, Barbara Budrich: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung: Theorie, Methoden, Empirie. VS Verlag, Wiesbaden.

[19] Der erste große Staatstheoretiker Jean Bodin, der den Begriff der Souveränität wesentlich mitprägte war ein Befürworter des Patriarchats, also der Vaterherrschaft: „die gut geführte Familie, ist das wahre Abbild des Staates“. Vgl. Bodin, Jean (1981), Sechs Bücher über den Staat. Beck, München S. 107.

[20] Dies hat Bourdieu (2014: 20ff), als eine Ideologie der Verwaltungsapparate entlarvt:

„Es ist das, was den Standpunkt sämtlicher Standpunkte einnehmen kann: Diese Auffassung des Staates als Quasi_Gott liegt der Tradition des klassischen Theorie zugrunde. Eigentlich begründet die spontane Soziologie des Staates, die sich in dem äußert, was man gelegentlich Verwaltungslehre nennt, das heißt in dem Diskurs, den die Akteure des Staates über den Staat hervorbringen, eine echte Ideologie der öffentlichen Verwaltung und des allgemeinen Wohls.“

 

Verfasst von Muehlbauer Josef, am 8.2.2018 im Rahmen eines Seminars (Politische Theorien und Theoriengeschichte) der UNI-Wien, mit der kreativen Unterstützung meiner Uni-Kollegen und vor allem Mag. Dr. Cornelia Mooslechner-Bruell.

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