Queer-Anarchismus bzw. Anarchafeminismus
Zur Autorin: Dr. Lucy Nicholas unterrichtet derzeit Soziologie an der Swinburne University in Australien. Sie erhielt ihr Doktorat im Fachbereich der Philosophie an der Edinburgh University in Schottland. Ihr Forschungsinteresse umfasst Gender, Feminismus, Queer Theorien und soziale Praktiken die gender- bzw. geschlechterspezifische Differenzen überwinden.
Theoretisches Konzept: Relationale bzw. situierte Ontologie (in Anlehnung an Foucault, Butler, de Beauvoir, Kropotkin).
Grundthese: In Abgrenzung zum Essentialismus (das ausgeht von konstante und unveränderliche Merkmale und Eigenschaften, anhand derer sich jede Entität eindeutig bestimmen lässt) hält Nicholas an einer konstruktivistischen Philosophie fest, welche von kontingenten, veränderbaren, hintergehbaren und relativen Konstrukten ausgeht (Vgl. Funk 2018: 8f.). Sie bleibt jedoch nicht bei dem Dualismus von sex/gender stehen, der von einem biologischen und einem sozial konstruierten Geschlecht ausgeht, sondern vereint de Beauvoirs Existentialismus („Transzendenz der Immanenz“) und Butlers relationaler Ontologie (und deren Konzept von Performance) in Kombination mit (post-)anarchistischen und queeren Praktiken (DIY, Queeruption, Queer Mutiny, Free Skool). Sie deckt (dekonstruiert) somit nicht nur die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse, den Androzentrismus und die heteronormative Matrix auf (dritte Welle Feminismus), sondern versucht darüber hinaus Sphären und Orte aufzuzeigen wo Subjekte die ontologische Einheit von „Selbst/Andere/Situation“ (Beauvoir 1980) in voller Freiheit und gleichzeitig in völliger Verantwortung (Kant, Proudhon, Kropotkin) im „jetzt und hier“ (Vgl. Gordon 2010), also mittels prefigurativer Politik leben. Diese Art der herrschaftsfreien Autonomie setzt auf gegenseitige Anerkennung, Respekt (mutual aid, Kropotkin) und Transparenz, sowie auf das gemeinsame lernen und teilen. Und lässt somit „non-subordinating norms“ (Allen) zu, die ermächtigen (power to) und nicht unterdrücken (subordinating norms) und Macht verfestigen sollen (power over). Damit geht sie von einer non-foundational Ontologie aus, welche deckungsgleich mit der anarchistischen Ontologie ist (arche = kein letzter Grund, Ursache und kein Herrscher). (Vgl. Rousselle 2013).
Kontext und gesellschaftlich-wissenschaftliche Relevanz: Gesellschaftlich ist dieser Beitrag, bzw. dieses Forschungsgebiet deswegen von großer Bedeutung, weil es eine herrschaftsfreie Denkweise und Praxis im Umgang mit sexuellen Differenzen, aber auch weiter gefasst mit sozialen Beziehungen fördert. Es geht mit anderen Worten um die Schaffung eines Bewusstseins, aber auch eines „künftiges Ortes“, bei welchem die Menschen sich als situiert, und relational zu anderen Menschen begreifen – somit ihre (sexuelle) Identität transzendieren und diese reziprok verstehen. Der Zweck dieser Herangehensweise soll Räume und Denkmuster schaffen, die sich gegenHierarchien, gegen geschlechterspezifische Binaritäten richten und die den respektvollen Umgang mit der autonomen (sexuelle) Entfaltung aller ermöglicht.
Die wissenschaftliche Bedeutung gewinnt der Beitrag dadurch, dass die situierte bzw. relationale Ontologie kaum in Bezug zu Queer Theorien und dem (Post-)Anarchismus gedacht wurde. In Gordon (2010) wird zwar die prefigurative Politik und Denkweise, in Newman (2010) die Grundlagen des postfundamentalem Denken des Postanarchismus und in Rousselle (2013) die ontologischen Grundlagen des Anarchismus angeschnitten, jedoch blenden all diese Bücher und Beiträge die sexuelle Differenz und die Queer Theorien aus. Lediglich in Heckert (2017) werden solche queer-anarchistische Ansätze verfolgt. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse enthält der Beitrag weil Nicholas um die Transzendierung von den Kategorien sex/gender, welche als Elemente des Selbst, bzw. der Identität angesehen werden und um das reziproke Verhältnis von Subjekten, die nicht auf Differenz oder Antagonismen reduziert werden, bemüht ist.
Zum ganzen Text siehe: https://www.grin.com/document/513213
Literatur:
Beauvoir, Simone de (1992): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek: Rowohlt.
Butler, Judith (1993): Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der »Postmoderne”. In: Benhabib, Seyla et al. Der Streit um Differenz. Frankfurt am Main: Fischer. 31-57.
Butler, Judith (1997): Excitable Speech: A Politics of the Performative. New York: Verso.
Butler, Judith (2017): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Suhrkamp.
Connell, Raewyn (2015): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit. Wiesbaden: Springer.
Crenshaw, Kimberlé W. (1989): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. Feminist Theory and Antiracist Politics. In: University of Chicago Legal Forum 1989. 139 – 167.
Foucault, Michel (2013): Die Hauptwerke. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Keating, Kathleen (2009): From Intersections to Interconnections. In: Michele Tracy Berger/ Kathleen Guidroz (Hg.): The Intersectional Approach. Transforming the Academy Through Race, Class, and Gender. University of North Carolina.
Pateman, Carol (1988): The Sexual Contract. Palo Alto: Stanford University Press.81-99.
Rich, Adrienne (1980): »Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence«. Signs 5. 631-660. dt. 1991: »Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz«. In: Dagmar Schulz (Hg.): Macht und Sinnlichkeit. Ausgewählte Texte von Audre Lorde und Adrienne Rich. Berlin: Orlanda Frauenverlag. 136- 168.
Zum Postanarchismus:
Critchley, Simon (2007): Infinitely Demanding. Ethics of Commitment. Politics of Resistance. London: Verso.
Franks, Benjamin (2007): Postanarchism: A Critical Assessment. Journal of Political Ideologies 12(2): 127-145.
Grubačić, Andrej/ O’Hearn, Denis (2016): Living at the Edges of Capitalism. Adventures in Exile and Mutual Aid. California: University of California Press.
Gordon, Uri (2010): Hier und Jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie. Edition Nautilus. Hamburg: Lutz Schulenburg.
Gordon, Uri (2018): Prefigurative Politics between Practice and Absent Promise. Political Studies. Vol. 66(2). 521-537.
Holloway, John (2018): Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Newman, Saul (2007) [2001]: From Bakunin to Lacan: Anti-Authoritarianism and the Dislocation of Power. Maryland: Lexington Books.
Newman, Saul (2010): The Politics of Postanarchism. Edinburgh: Edinburgh University Press.
Rousselle, Duane/ Adams, Jason (Hg.) (2013): Ontological Anarché. Beyond Materialism and Idealism. Anarchist Developments and Cultural Studies. New York: Punctum Books.
Queer Theorien und Anarchismus:
Heckert, Jamie (2017): Anarchie ohne Opposition, In: Daring et al. (2017): Anarchismus Queeren. Über Macht und Begehren in queeren und herrschaftskritischen Kontexten. Münster: Unrast. 75-90.
Lohschelder, Silke/ Dubowny, Lione M./ Gutschmidt, Ines (2009): AnarchaFeminismus: Auf den Spuren einer Utopie. Münster: Unrast.
Publiziert von Josef Mühlbauer am 29.04.2019 im Rahmen der Uni Wien
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