Staat als Herrschaftsinstrument

Hier in diesem Beitrag erfahren Sie einiges über den mehrdeutigen Begriff des „Staates“, der in den verschiedenen Disziplinen der Sozialwissenschaft von jeweils verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann. Wie man den Staat schlussendlich definiert, hängt im Grunde davon ab, welcher geschichtlichen Grundlage bzw. welche sozialwissenschaftliche Theorie man sich bedient. Diese Wahl hängt wiederum von der politischen Ideologie, also vom eigenen Weltbild ab.

Zur Geschichte: Das deutsche Wort „Staat“ kommt aus dem lateinischen „status“ und heißt soviel wie: „Stand“, „Zustand“, „Stellung“. Es beschreibt den „Stand der Macht, bzw. der Herrschaft“ (status regalis), eines an die Macht gelangten Herrscher – auch wenn dies oftmals nicht legitim und nicht im Sinne des öffentlich-sozialen Konsens (bzw. Willens) war. So begann schon sehr früh in der Geschichte eine „Trennlinie“ zwischen Staatsmacht und der Gesellschaft. Wie Tag und Nacht scheinen auch die Statik und Dynamik völlig klar getrennt zu sein. Tatsache ist jedoch, dass sie immer wieder ineinander fließen. Den Staat kann man also, wenn man vom Status Quo ausgeht statisch, bzw. wenn man sich die geschichtliche Entwicklung ansieht, auch dynamisch vorstellen. Dynamisch ist der Staat, weil er ständig sozialen Veränderungen unterliegt (Revolutionen; Bündnisse; Kriege; Übernahmen; Auflösungen…) und kein „vollendetes Projekt“, sondern ein „Prozess des Werdens“ darstellt. Der Staat unterliegt nicht nur Veränderungen (ist ein Objekt), sondern er schafft auch soziale Veränderungen (ist auch Subjekt) – ist somit Gegenstand und Akteur zugleich. Schon allein anhand dieser soziologischen Fakten ist eine genaue Definition des Staates immer in einem historischen Kontext eingebunden (Hochgerner, S.19). Werfen wir hierbei einen Blick auf einige Beispiele:

Der Sonnenköig, Ludwig XIV

Im 17. Jh. finden wir eine absolutistische Staatsauffassung vor, die mit dem berühmten Zitat des Sonnenkönigs (Ludwig XIV) einhergeht: „L’état c’est moi“ – „Der Staat bin ich„. Hierbei sehen wir eine konzentrierte Staatsmacht, bei der ein Führer oder Kaiser den Staat (bzw. sein Staatsvolk) nicht nur repräsentiert (was im heutigen Europa PräsidentInnen und KönigInnen noch tun), sondern buchstäblich personifiziert. Ähnlich verhält es sich mit der Donaumonarchie Österreich-Ungarn und ihrem personifizierten RepräsentantInnen (die Habsburger Familie). Dies sehen wir aber heute noch im Nahen-Osten anhand der Familie Saud (in Saudi-Arabien).

Stefan Meretz, Rosa Luxenburg Stiftung Leipzig, Bonn, 2016.

Die Entstehung des modernen Staates in Europa war eng verbunden mit dem Kapitalismus, sowie mit den politischen Revolutionen, die den Feudalismus beseitigten und zugleich Konstitutionen und damit verbunden diverse Formen parlamentarisch-demokratische Systeme etablierten. Die Folge: die Vernichtung von Ständeversammlungen und Ansätzen von Verfassungen und Volksrepräsentation; Schaffung neuer Formen der Königsherrschaft (Absolutismus), welche sich auf die militärische Gewalt stützen. Die französische Revolution (1789), bzw. Februarrevolution (1848), der englische Bürgerkrieg (1642) und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 waren Eckpfeiler der Vorstellung von der individuellen Freiheit und Eigentumssicherung. Diese „Freiheit“ galt natürlich nur für weiße, privilegierte, angelsächsische, besitzende, überwiegend heterosexuelle Männer – da Frauen, Besitzlose, Farbige und Sklaven nicht zur offenen und freien Gesellschaft der Wähler zählten. Die Idee des Privateigentums ist also nicht nur für unser „modernes Demokratieverständnis“ von großer Bedeutung, sondern auch ausschlaggebend für die Entwicklung des modernen Staates: da die „BürgerInnen-Schicht“ (Bourgeoisie) die Notwendigkeit eines „Gewaltmonopols“, also eines Staates darin sah, ihr Eigentum sowohl von den Gefahren der Demokratie („Volksherrschaft“), als auch vor den Gefahren des Absolutismus („bzw. Totalitarismus“) zu schützen. Der österreichische Politik- und Geschichtswissenschaftler Johann Dvorak, der an mehreren Universitäten lehrt, formuliert es folgendermaßen:

Das zentrale Problem und die (buchstäbliche) Begründung des modernen Staates ist die Sicherung des Eigentums. Die Frage des Eigentums im Zusammenhang mit dem Staat, musste in der Sphäre der Ökonomie zunehmend verborgen und verschleiert werden.“ (Dvorak, S.32)

Burke & Paine on legitimate government & French revolution, Prof. Christina Hendricks, Feb. 2014.

Die Begriffe Staat, Politik und Gesellschaft bilden eine Einheit die auch schon zu Zeiten Aristoteles und den griechischen Stadtstaaten eng gekoppelt waren mit dem Eigentum. Die antiken „Demokratien“ waren im Grunde keine Volksherrschaft wie sich die meisten es sich heute vorstellen, sondern eine Ansammlung von einer besitzenden, städtischen, privilegierten Minderheit. Dies verläuft wie ein roter Faden durch die Geschichte. Im Englischen heißt es: „a common wealth is called a society of free men“ (Williams 1985, S.292). Die meisten assoziieren hier sicher „men“ weniger mit dem „Menschen“ an sich, als eher mit Mann. Dies zeigt uns, dass in diesem Freiheitsbegriff die Mehrheit ausgeschlossen wurde (nämlich die Frauen!). Adam Smith in seinem Werk „Der Wohlstand der Nationen“ (1776) unterscheidet zwischen verschiedenen sozialen Klassen innerhalb der Gesellschaft. Folgende Frage kommt dabei auf: Wie kann man dann jemals von einem homogenen Staatswesen reden, in dem sich der gesamtgesellschaftliche Konsens ausdrückt? Wichtig ist hierbei folgendes festzuhalten:

Wenn unter Gesellschaft zunächst die Vereinigung „freier, gar gleicher Menschenvorgestellt wird, so hat „Staat“ von Anfang an mit Über- und Unterordnung, mit Macht und Herrschaft zu tun: Staat ist organisierte Gewalt, organisierte Macht“ (Dvorak, 33f).

Wir halten also fest: Den Staat, wie er heute existiert, gibt es erst seit dem 16/17 Jahrhundert und entstand im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kapitalismus, der Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft, der Vernichtung des Feudalismus und Absolutismus und nicht zuletzt dank der Idee des „gesicherten Eigentums“. (Dvorak, S.33ff).

Demokratie und Kapitalismus, http://www.derfunke.ch

Staat als Instrument zur Sicherung des Eigentums: Nach der Englischen Revolution (1640 bis 1660) kamen die Menschen überein in einem Staate zu leben, um so das Eigentum zu bewahren. (Vgl. Woodhouse 1974: 63; nach Dvorak 2007: 77-87). Es wurde die Furcht davor geäußert, dass die Masse der Besitzlosen die Minderheit der Besitzenden (über parlamentarische Beschlüsse) enteignen könnte.

  • Somit wurde die „Heiligkeit des Eigentums“ in den Verfassungen verankert!
  • Der moderne Staat wurde zum Schutz des Eigentums und zur Abwehr der wahren Volksherrschaft entwickelt.
  • Die Mehrheit darf am Staat (-System) nur teilhaben, wenn sie die Minderheit der „Viel-Besitzenden“ dadurch nicht beeinträchtigt. (Dvorak: 37)

Legitimation und Menschenbild: Wenn der Staat als eine Herrschaft, bzw. als ein Gewaltmonopol definiert wird, fragt man sich doch, warum der Mensch im Naturzustand seine Freiheit aufgeben wollte? Die Antwort hierauf liegt in der negativen Anthropologie, also im Menschenbild von Thomas Hobbes: „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ (homo homini lupus)… ergo: ohne eine staatliche Herrschaft, würde der Mensch über einen anderen herrschen, ihn berauben, belügen und betrügen (Hobbes, 1647). Hobbes geht sogar einen Schritt weiter:

Es herrsche ein Krieg eines jeden gegen jeden (bellum omnium contra omnes). Das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ (Leviathan, Kap. 13).

In einer solchen Situation, die Hobbes als „Naturzustand“ definiert, haben alle Menschen ein Naturrecht auf alles, aber da dies wiederum alle haben, verschafft das Recht keine Sicherheit, wenn es nicht eine Macht gibt, die das Recht garantiert (LIanque, S.45). Im Grunde wird der Mensch als von Grund auf „Böse“ definiert, um ein Herrschaftssystem zu legitimieren, welches dem einzelnen Individuum der Gesellschaft die Freiheit deutlich einschränkt. In diesem Sinne wurde auch eine Dichotomie zwischen „Gut“ und „Böse“, also zwischen dem männlich konnotierten Begriff der „Kultur“ (Kultivierung) und dem weiblich konnotierten Begriff des „Naturzustandes“ (unkontrollierte Wildnis) erzeugt. Im Naturzustand sind wir „wilde Bestien“, die ihre Emotionen, Triebe und Sehnsüchte nicht kontrollieren können und nur auf unseren eigenen Vorteil (Egoismus) bedacht sind. Die theoretischen Grundlagen für solch ein Denken wurden mit dem Sozialdarwinismus (Spencer, Malthus) noch zusätzlich verstärkt und legitimierten nationalistische Bestrebungen – u.a. die Rassentheorie (u. Eugenik) des Dritten Reiches. Die soeben genannten Gedanken über das Menschenbild wurden Mantra-artig in unserer Gesellschaft wiederholt und haben sich mittlerweile im breiten Konsens etabliert. Keine politische Partei würde heute je auf die Idee kommen, die Staatsstruktur bzw. den Staat als solches zu hinterfragen.

Das System-orientierte Menschenbild und seine Aus-Wirkung, leads-akademie.de

 

 

 

 

Das „Taler-Experiment“ aus der Psychologie und das Max-Planck-Institut haben deutlich gezeigt, dass Personen mit einem negativen Menschenbild besonders egoistisch handeln (Welt am 15.4.2011). Die Grafik weiter oben zeigt ein ähnliches Bewusstseins-Phänomen: Vom Menschenbild hängt es ab, ob wir positive Assoziationen mit Begriffe wie „Aufrüstung“, „Gewaltmonopol“, „Staat“, „Kontrollmechanismen“, „Überwachung“ pflegen. Insofern hängt auch die Definition des Staatswesens davon ab, von welchen Menschenbild man ausgeht. Geht man von der sozialwissenschaftlichen Theorie von Pjotr Kropotkin und David Gräber aus, so scheint jegliches Staatswesen mit seinem Gewalt- und Überwachungsmonopol als absurd und als eine Art Herrschaftsinstrument. Lehnt man aber den Alutrismus, die Kooperation und die zwischenmenschliche Solidarität ab, so muss man Hobbes und Locke zustimmen und für einen „starken Staat“ sein, der kontrolliert, besteuert, abstempelt, kategorisiert, registriert und nummeriert.

Staatsdefinition sozialwissenschaftlicher Perspektive (vom Liberalismus über Neoklassik zum Marxismus: 

John Locke (1632 – 1704; Vater des Liberalismus und Empirismus):Das große Ziel weshalb sich Menschen zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter einer Regierung stellen, ist also die Erhaltung des Eigentums“ (Locke, 1998: 278).

Adam Smith (1723 – 1790; Schöpfer der klassischen Nationalökonomie): „Civil government, so far it is instituted for the security of property, is in relity instituted for the defence of the rich against the poor, or for those who have some property against those who have none at all“ (Smith, 1999: 298-302).

Karl Marx (1818 – 1883; Philosoph und Theoretiker des Kommunismus): „Der Staat ist eine Form der Organisation, welche sich die Bourgeoisie sowohl nach außen als nach innen hin zur gegenseitigen Garantie des Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben“ (Marx, 1958: 62). Und… „der Staat dient der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse“ (MEW, 1962: 166f).

Diese hier artikulierte Dichotomie zwischen „Freiheit“ und „Sicherheit“ finden wir nicht nur bei den hier zitierten Philosophen und Theoretiker, sondern auch bei Thomas Hobbes und vor allem in der neokonservativen Politik: Was früher im Namen der Sicherung des Eigentums galt, ist heute die Staatssicherheit. Die Rüstungsausgaben für Militär und die „Ausgaben für die innere Sicherheit“, also für die Polizei werden jährlich erhöht – natürlich im Namen der nationalen Sicherheit. Was unter „national“ aber gemeint ist, wird klar sobald man versteht, dass es für den Wohlfahrtsstaat kein Geld im Budget gibt, hingegen für die Rüstungsausgaben sehr wohl. Auch angesichts des „Patriot Acts“ von G.W.Bush wurde klar, dass es nicht um das allgemeine Wohl der Bevölkerung geht. Wesentlich für die neokonservative Politik ist die Schaffung eines permanenten Krisenbewusstseins (Dvorak, S.45). In diesem Sinne kann man auch das politische Paradigma nach den Terroranschlägen des 11. Sept. betrachten, weil danach ging die USA auf einer ewig andauernden Phantomjagd, die per Definition kein Ende kennt. Spannungen und Angst wird medial geschaffen: Ozonloch; aussterbende Tierarten; Drogenbarone; Ostmafia; „völkische Übervölkerung“; Migrationswellen; Triebverbrecher und vor allem der Begriff „Terrorismus“ sind diffuse und nicht recht fassbare Begriffe des Bösen, die militärisch und moralisch bekämpft werden sollten. Eine perfekte Legitimierung die Umverteilung innerhalb der Staatsfinanzen zu begründen und neu zu strukturieren.

 

Literatur:

Josef Hochgerner – Soziologische Reflexionen: Vom Staat als Herrschaftsinstrument zum kooperativen Staat, in: Johan Dvorak, Hermann Münkler (Hg.) – Staat, Globalisierung, Migration, Facultas, 2011.
Johan Dvorak, Hermann Münkler (Hg.) – Staat, Globalisierung, Migration, Facultas, 2011.
Raymond Williams, Keywords: A Vocabulary of Culture and Society, London, 1985.
Adam Smith, The Wealth of Nations, Book 4-5, Harmondsworth, Penguin, 1999.
John Locke, Two Treatises of Government, Cambridge University Press, 1998.
Karl Marx – Friedrich Engels – Werke, Band 23, S. 11-802, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1962.
Karl Marx – Die Deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und M. Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: Marx-Engels Werke 3, 1958.
Thomas Hobbes: Elementa philosophica de cive. Amsterdam 1647.

 

Veröffentlicht von Josef Muehlbauer, mit der freundlichen Unterstützung von Mariele Friesacher BA, BA am 12.03.2017.