Von der Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft

In diesem Beitrag werde ich die folgende Fragen tangieren: Ist die Rechtswissenschaft überhaupt eine Wissenschaft? Welche Definition(en) und welche gesellschaftliche Funktionen hat das Recht überhaupt? Und zu guter Letzt: Auf welche Autorität bzw. auf welche Rechtsquelle stützt sich das Recht. Anders gefragt: wie wird es legitimiert?

Zu Beginn: Warum interessiert mich dieses Thema eigentlich? Die Antwort auf diese Frage ist gekoppelt an mehrere Faktoren: philosophische Neugier, Sinn für Gerechtigkeit und nicht zuletzt die gesellschaftliche Bedeutung dieses Themas. Die einen sehen Juristen als Rechtsverdreher und Diener der mächtigen, andere wiederum sehen in ihnen die Stabilität des Staates. Genau in diesem polarisierenden Spektrum wollte ich mich einordnen. Ich begann ganz simpel mir die Frage zu stellen, warum es gerade der Staat sein muss, der einen Streit zwischen zwei Personen, Parteien oder Gruppen schlichtet? Was legitimiert den Staat, jener institutionelle Ort des Gewaltmonopols sich in die Privatangelegenheit oder sogar in die Intimsphäre der Menschen einzumischen? Allein in den USA gibt es über 700 rechtliche Verordnungen bzw. Gesetze die den weiblichen Körper reglementieren. Der Staat mischt sich auch in unsere Sexualität ein und bestimmt was die „Norm“ ist (z.B: Heterosexualität). Wie rechtfertigt jedoch der Staat all diese Eingriffe in die Freiheit der Menschen? Es sind die „Gesetze“ und „Rechte“ auf die sich die Staatsgewalt stützt, angeblich zum Allgemeinwohl (Paine; Rousseau). Rechte wurden im Laufe der Geschichte systematisiert, verändert, logisch kohärent gestaltet und ergänzt. Somit begann eine eigene „Wissenschaft“ ihren Lauf. Doch ist es überhaupt eine Wissenschaft? Auf diese Frage kann wohl am besten nur ein Jurist, also eine Fachperson antworten. Im Jahre 1847 hat der deutsche Staatsanwalt Julius von Kirchmann in Berlin einen Vortrag gehalten mit dem Titel: Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Darin skizziert er zwei grundlegende Kritikpunkte:

  1. Juristen sind wie Holzwürmer, da diese nur in faulen Bäumen leben und sich vermehren können. „Gesundes Holz“ können sie ja bekanntlich nicht verdauen. Laut der deutschen Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Ingeborg Puppe gibt es im Bezug auf die Rechtswissenschaft nur faules Holz (Universität Bonn, 7.10.2013)! Angesichts der heutigen Weltordnung sind diese Aussagen leicht verständlich. Auf der einen Seite stellen sich die rechtssprechenden Organe als „objektive“ Instanzen dar. Und zwar im Sinne, dass sie sich auf das materielle Recht und somit auf eine Interessenabwägung stützten. Ein neutraler Ort der Interessenabwägung der selbst ohne eigennützige Interessen ist? Angesichts der Kriege, ungleichen Wohlstandsverteilung, Korruption, staatlichen Eingriffe in die Privatsphäre usw. usw., kann man sich ja selbst ein Bild machen. Doch faul ist hier noch etwas anderes: Wenn in den Naturwissenschaften eine Theorie als falsch erklärt wird, so wird diese verworfen und durch eine neue ersetzt. Nur der Jurist ist dazu verurteilt dem Irrtum zu dienen und den Unsinn zu loben, wenn dieser in einem Gesetz steht (Puppe, 2013; Kirchmann, 2012). Dies sehen wird deutlich im heutigen positiven Recht. Die positivistische Auffassung des Rechts löst sich nämlich von jeglicher Moral und Gerechtigkeit und stellt an dessen Stelle ein „oberstes Gesetz“ („eine logische Fiktion„, Hans Kelsen). Unter diese „gesetzten“ und unhinterfragten obersten Recht entwirft man eine logisch-systematische Wissenschaft, in der unzählige Gräueltaten wie zur NS-Zeit legitimiert werden. Wenn man als oberstes gesetztes Recht irgendeinen willkürlichen Inhalt einfügen kann, warum spricht man dann noch immer von einer Wissenschaft? Aufbauend auf ein Spaghetti-Monster kann man aber scheinbar auch Religionen etablieren.
  2. Ein weiterer Kritikpunkt der mit dem letztgenannten in Verbindung gebracht werden kann, ist die Wandelbarkeit der Gesetze und somit auch des Rechts. „Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur“ (Kirchmann, 2012). Damit will er folgendes sagen: Gesetze kommen, gehen und sind dem Wandeln der Zeit unterworfen. Wurde die Homosexualität noch vor über vierzig Jahren bestraft, so dürfen heute in manchen Staaten homosexuelle Eheverbindungen geschlossen werden. Sobald ein Gesetz geändert wird, kann man ganze Bücher, Bänder, Kommentare und Verzeichnisse wegschmeißen. Jedes Jahr werden Kodizes umgeschrieben, verändert und aktualisiert. Somit wird neues schnell zum alten. Eine Menge Bücher müssen also gekauft werden um am aktuellen Stand zu bleiben. Das erklärt wohl den Vorteil eines „Bonzen“ beim Jura Studium. Wenn sich der Inhalt so schnell dreht wie der Wetterhahn und wenn man sich von fiktiven gesetzten Rechte (Rechtspositivismus) leiten lässt, die allein geschichtlich betrachtet willkürlich definiert wurden, frage ich mich wo die Wissenschaftlichkeit liegt?

Vielleicht hilft es diese Fragen zu beantworten indem wir zunächst die Legitimation bzw. die Funktion und Definition des Rechts betrachten. Der deutsche Rechtswissenschaftler Norbert Horn meint: „Recht ist der Inbegriff von staatlichen Normen zur Regelung des menschlichen Zusammenlebens“ (Horn, 2004, 4f). Laut dem Politikwissenschaftler Otfried Höffe ist Recht „eine Ordnung sozialer Regeln zum Vorteil aller Betroffenen“ (Höffe 1987, 168f). Der deutsche Historiker Wolfang Reinhard bietet eine realistischere Definition an:

„Recht ist heute von der Staatsgewalt monopolisiert (staatliches Rechtssetzungsmonopol). Recht war ursprünglich identisch mit Religion, Moral und Sitte und geriet immer mehr in die Sphäre des Politischen. Recht ist immer a) ein Machtmittel der jeweiligen Herrschaft, b) ein Spiegelbild der jeweiligen gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnisse (Hierarchie) und c) ein Steuermittel der soziokulturellen Strukturen“ (Wolfang Reinhard, 2002, 281ff).

Zuletzt möchte ich noch auf die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts eingehen. Das Recht legitimiert seinen Geltungsanspruch aufgrund seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit (Funktionen). Doch welche sind diese Nützlichkeiten?

  • Sicherung des inneren gesellschaftlichen Friedens: Frieden gelingt mittels Rechtssetzung und somit mittels Rechtsdurchsetzung. Anders dargestellt: Zum Zweck des Friedens wird die Gewalt monopolisiert. Eine Farce! Erstens beruht diese Argumentation auf eine falsche Prämisse, nämlich das der Mensch des Menschen Wolf ist, wenn er nicht unter Gesetzen gestellt wird. Wer oder was berechtigt gerade den Staat bzw. die Staatselite als Friedensstifter zu agieren? War es nicht gerade diese Elite, die sich gerade aufgrund des Gewaltmonopols überhaupt etablieren konnte? Und ist die Legitimation, also der „freiwillige Zusammenschluss unter Rechtsbedingungen“ (Kant) bzw., das rechtliche u. staatliche Handeln im „Namen des Allgemeinwillen“ (Rousseau), nicht bloß eine Fiktion? Provokativ annonciere ich hiermit: Der Erste der mir „die Urkunde“ bzw. die „Vereinbarung“ zeigt, auf der alle BürgerInnen sich zusammengetroffen haben, unterzeichnet haben, sich freiwillig unter dem Gesetz gestellt und eine Gruppe privilegiert haben das Gewaltmonopol auszuüben, der kann mir gerne schreiben. Ganz abgesehen von diesen abstrakten Überlegungen sehen wir schließlich, wie sehr das Recht zum Frieden beiträgt anhand der „westlichen Vorzeige-Demokratien“. Ein plakatives Beispiel: Die demokratisch-rechtsstaatlichen NATO-Länder kämpfen um Schürfrechte, nicht um Menschenrechte. Oder wie viele Schulen glauben Sie wurden in Afghanistan seit 2001, in Irak seit 2003 und in Pakistan seit 2008 errichtet?
  • Recht als Garant der Sicherung individueller Freiheit: Ein schlechter Witz oder? Nein, so steht es in den universitären Lehrbücher geschrieben (Gschiegl, 2013, S.42f). Also mit anderen Worten will man mir einreden, dass mittels Gewalt und Zwang die Freiheit gesichert wird? Denn schlussendlich sind Gesetze nur leere Worthülsen, sobald hinter ihnen kein Schwert steht. Stichwort: Freiheit – Sicherheit: Sobald um die Sicherheit geht, wird die Freiheit fallen gelassen. Nach den Terroranschlägen von 2001 und im Zuge des Patriot Acts wurden im Namen der Sicherheit die Gesetze verschärft und beeinträchtigen die individuelle Freiheit massiv (PRISM; Vollmachten des US-Präsidenten usw). Recht ist im Zuge der Entstehung des modernen Staates, als ein Schutzinstrument des Eigentums verwendet worden und wurde ursprünglich nicht etabliert aufgrund abstrakter Menschenrechte.
  • Recht als Reduzierung von Komplexität (Entscheidungsdruck): Hier will man mir also erklären, dass der empirisch bewiesene Trend der Verrechtlichung unserer Gesellschaft zu einer Reduzierung der Entscheidungen kommt? Das Paradebeispiel: „Man denke dabei etwa an den simplen Kauf von Lebensmittel. Müssten wir neben der eigentlichen Transaktion Ware – Geld noch sämtliche andere Vertragsbestände, Gerichtsstandvereinbarungen (Gewährleistungen…) mit-verhandeln, so wären wir alle überfordert.“ Im Klartext: Jemand stellt Gesetze auf, kompliziert damit unseren Alltag und meint gleichzeitig, dass unser Alltag dadurch simpler wird? Das ist doch der springende Punkt: Gesetze entfalten ihre Wirkung und zu Gericht bringen es zwischenmenschliche Konflikte ja nur in den seltensten Fällen. Die meiste Zeit über sanktionieren wir unsere Mitmenschen für ihr Fehlverhalten mit diffusen und zwischenmenschlichen Sanktionen. Man meidet das schlechte Restaurant, oder den beleidigenden Nachbar oder aber man stellt den Lügner zur Rede.
  • Gewährleistung rechtlicher Gleichheit: Diese Gleichheit ist lediglich formaler (bzw. fiktiver) Natur, da dieser Grundsatz (so u.a. Art. 7 B-Vg „Alle Staatsbürger [sic] sind vor dem Gesetz gleich“ oder auch ähnlich Art. 3 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“) nur diejenigen gleich behandelt, die den jeweiligen gesetzlichen Kriterien entsprechen. Und dies hindert GesetzgeberInnen nicht (wie wir aus zahlreichen Fällen bereits wissen), gesetzliche Regelungen zu erlassen, die per se eine allgemeine Ungleichheit zum Inhalt hatten bzw. eine Ungerechtigkeit für lange Zeit einzementierten (man denk nur an die Nürnberger Rassengesetze). Vgl. Gschiegl, 2013, 40ff.

Abschließende Bemerkungen: Das positivistische Recht ist nicht nur eine Fiktion (im Sinne der Legitimation), sondern auch wissenschaftlich nicht relevant. Wenn ich als (einzige) Prämisse mir ein Spaghetti-Monster her zaubere und darauf systematische, kohärent-logische und stringente Satzstrukturen bilde, wird es dann als Wissenschaft bezeichnet? Die Legitimation der Gesetzgebung, des positivistischen Rechts und somit auch der Staatsgewalt beruhen auf historischen Fehlinterpretationen (freundlich ausgedrückt) und auf falschen Prämissen (z.B. das Menschenbild). Das Recht ging nie, geht nie und wird nie vom Volk ausgehen. „Das Volk“ hat sich auch nie zusammengefunden und einen „Gesellschaftsvertrag“ unterzeichnet und selbst wenn, wie kann man sich selbst die Freiheit vor sich selbst (mittels Gewalt) geben? Wenn wir alle einheitlich das Volk bilden und wenn wir angeblich alle mit einer Stimme sprechen, warum brauchen wir dann noch so etwas wie einen Staat? Recht ist wie wir sahen eine Abstraktion sonder gleichen. Und dies liest man allein daran ab, dass die Rechtsquellen (also der Ursprung des Rechts), historisch betrachtet, auf metaphysischen Grundlagen beruhen: Bei Cicero (106-43 v. Chr.) ist es die höchste Form der Vernunft (Logos) bzw. das ewige göttliche Recht (Lex aeterna), während in der Neuzeit von einer „natürlichen Vernunft“ ausgegangen wurde. Als die Welt „entzaubert“ wurde (Neuzeit), trat die Rationalität in den Vordergrund und es bildete sich nicht nur das „vernunftbasierte Naturrecht“, sondern auch das Gewohnheitsrecht. Die ursprünglichste Form des positivem Recht ist die Tradition (das Bewährte, Regeln der Gewohnheit). Nur ergibt sich auch hierbei das ethische Dilemma: Nur weil es immer so war, heißt es nicht dass es gerecht oder richtig ist. Heute stellt das gesatzte Recht, also das positive Recht die bedeutendste Rechtsquelle dar. Dies findet seine Legitimation in der bloßen Faktizität, also in der bloßen Existenz der Rechtsprechung. Oder mit anderen Worten Recht ist Recht weil der Herrscher (Elite), der über das Gewaltmonopol verfügt Gesetze erlassen und diese exekutieren kann. Bei genauer Betrachtung eine Tautologie: Recht ist Recht weil es Recht ist. Im angloamerikanischen Raum finden wir das Common Law, also ein Netz aus unzähligen Gerichtsentscheidungen. Recht wird dabei aus vergangenen Rechtsurteilen bzw. Rechtsfällen ge- und weitergebildet. Die obersten Gerichtshöfe und RichterInnen entscheiden hierbei nach einem ethisch-rechtlichen Rahmen der willkürliche Inhalte enthält. Rationale und wissenschaftliche Entscheidungen auf der Basis von willkürlichen Prämissen?

„Alterius culpa nobis nocere non debet.“

Durch den Vertrag eines Anderen wird niemand verpflichtet. Man kann Verträge nicht für Andere abschließen. Ergo: Der Gesellschaftsvertrag ist somit ungültig. Somit steht das gesamte Staats- und Rechtskonstrukt auf wackeligen Beinen, oder?

 

Verfasst von Josef Muehlbauer, am 5.7.2017.

Quellen:

Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Verlag Julius Springer, Berlin, 1848. Volltext als PDF in der Digitalen Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main.

Karl Larenz: Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (online (Memento vom 24. Mai 2012 im Internet Archive) bei der Juristischen Gesellschaft Berlin).

URL: http://www.gleichsatz.de/b-u-t/can/rec/kirch1.html.

Stefan Gschiegl, Politik und Recht. Studienbuch, Facultas Verlag, Wien, 2013.
Norbert Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, C.F.Müller, 2011.
Peter Schröder, Hobbes. Grundwissen Philosophie, Reclam, Stuttgart, 2012.
Herfried Münkler, Thomas Hobbes, Campus Verlag, Frankfurt, 2001.

Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, Grimm, Wien, 1960.